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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2021

Louis Althussers Anweisung, wie Marx zu lesen sei, führt von Marx weg, denn das Element der Praxis verschwindet
von John Will*

Werner Seppmann: Das Elend der ­Philosophie. Über Louis Althusser. Kassel: Mangroven Verlag, 2020. 380 S., 27 Euro

Der französische Philosoph Louis Althusser (1918–1990) wird in der Marxismusdiskussion der Nachkriegszeit zu einem ihrer wortgewaltigsten Protagonisten gezählt. Mit seinem 1965 in Frankreich veröffentlichten Werk Für Marx und dem in Zusammenarbeit mit Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey und Jacques Rancière entstandenen Das Kapital lesen prägte er die marxistische Kultur der 1960er und 1970er Jahre.
Seine Interventionen in die Theoriedebatten der Linken wurden aufmerksam registriert. Ausgehend von seinen theoretischen Anschauungen bildete sich eine intellektuelle Schule, die mit seinem Namen verbunden ist und die bis heute eine große Anzahl von primär akademischen Gefolgsleuten aufweisen kann.
Dennoch blieb Althusser trotz seiner großen Popularität nicht unumstritten. 1978 verfasste der große britische Historiker Edward P. Thompson mit Das Elend der Theorie eine umfangreiche Polemik, in der er die Grundfesten des Althusserschen Strukturmarxismus erschütterte. Werner Seppmann schließt mit seinem Buch Das Elend der Philosophie an Thompson an. Nicht zum ersten Mal steht der strukturale Marxismus im Zentrum seiner Forschung. Bereits 1993 legte er mit Subjekt und System eine Kritik an der Althusserschule vor. Dass ein erneuerter Blick auf Althusser notwendig sei, führt Seppmann auf die Langlebigkeit des Strukturmarxismus in den vor allem akademisch geprägten Diskursen zurück.
Ähnlich wie bei Thompson, handelt es sich auch bei Seppmanns Buch um eine polemische Auseinandersetzung. Kleinschrittig entfaltet Seppmann seine Kritik an dem Werk von Althusser, das mit der Praxisphilosophie von Karl Marx bis auf den Namen nichts gemein habe.

Marx ohne Geschichte
Ausgehend von den politischen Umbrüchen der «Entstalinisierung» 1956 hatte Althusser es sich zur Aufgabe gemacht, den Marxismus zu erneuern. Dieses Versprechen konnte laut Seppmann jedoch nicht eingehalten werden. Im Gegenteil bewegt sich Althussers Strukturalmarxismus mit seinen apodiktischen «Offenbarungen», die stellenweise sogar einen religiösen Charakter annehmen, in vielerlei Hinsicht im Windschatten eines stalinistischen Dogmatismus, trotz vieler Inszenierungen Althussers als Antidogmatiker.
Althussers Marxrezeption sei teils lückenhaft, teils ignorant. Die von ihm vorgeschlagene Sicht auf Marx enthistorisiere den Gegenstand. Althusser erklärt dies mit einem «epistemologischen Bruch» im Marxschen Denken, der das humanistisch aufgeladene, hegelianische Jugendwerk von dem des «reifen» Marx trenne. Er lehnt den jungen Marx ab und denunziert damit zugleich die dialektische Methode als «bürgerliche Ideologie». Allein der spätere Marx des Kapitals wird von ihm wahrgenommen. Althusser gelingt dies durch «symptomatische Lektüre», bei der äußerst selektiv Passagen bis hin zu einzelnen Begriffen in das eigene Theoriemodell integriert werden.
In Althussers Lektüreanweisung in Das Kapitel lesen, aber auch in Für Marx, und seinen Ausführungen über die ideologischen Staatsapparate sieht Seppmann eine Destruktion der theoretischen Kerngehalte des Marxismus, indem marxistische Elemente aus ihrem Zusammenhang losgelöst und in einen logizistischen Idealismus überführt werden.
Die Hegelsche (und damit auch die Marxsche) Dialektik als bürgerliche Ideologie ablehnend, stellt Althusser dem historischen Materialismus die Vorstellung einer «reinen Wissenschaft» gegenüber. Luzide stellt Seppmann dar, dass der Theoriekorpus von Althusser wesentlich stärker von der Psychoanalyse eines Jacques Lacan und der positivistischen Soziologie eines Emile Durkheim geprägt war als von der marxistischen Diskussion. Der Strukturmarxismus als gereinigter Szientismus enthalte sich damit auch jeglicher Praxis. Auch wenn Schlagwörter wie «Klassenkampf» oder «Revolte» in strukturmarxistischen Schriften immer mal wieder fallen würden, seien diese theoretisch nicht vermittelt.
Althussers Theorie sei, wie Seppmann richtig herausarbeitet, dazu auch nicht angelegt. Mit dem Beharren auf einem Objektivismus wird den gesellschaftlichen Subjekten jede Handlungsmöglichkeit abgesprochen. Durch die ideologischen Strukturen determiniert seien diese unfähig, Möglichkeiten der Selbsttätigkeit zu entwickeln, und zur Unterwerfung verurteilt. Seppmann sieht darin zu Recht eine Unvereinbarkeit mit der Praxisphilosophie von Marx und stellt mit einem Marxismus, der sich unter anderem an Georg Lukács und Leo Kofler orientiert, ein Gegenprogramm auf, in dessen Zentrum er den Menschen als tätiges und damit die Welt veränderndes Subjekt setzt.
Die Abhandlung von Seppmann über den französischen Philosophen ist in einem scharfen Ton gehalten. Das darf jedoch nicht als Denunziation verstanden werden, wie es bei so manchen selbsterklärten Nachfolgern von Marx gängig ist, die vorgeben, eine «einzig wahre Linie» vor Häresien und Abweichungen beschützen zu müssen. Seppmann geht es nicht darum, das Bild eines «wahren» Marx gegen den Strukturmarxismus zu verteidigen, sondern das kritische Potenzial im Denken von Marx zu rekonstruieren. Dies ist ihm auf ganzer Linie gelungen. Insofern stellt seine Polemik einen wichtigen Beitrag für die heute anstehenden theoretischen Herausforderungen dar.

*John Will arbeitet als Historiker in Leipzig.

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