Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2021

Organizing ist ein anerkanntes Mittel, Interessenvertretung im Betrieb ­aufzubauen. Was wurde damit erreicht? Eine persönliche Bilanz, nach mehr als einem Jahrzehnt
von Slave Cubela*

Jeffrey Raffo, heute Verdi-Organizer und ohne Zweifel derjenige, von dem ich am meisten über Organizing gelernt habe, sagt gern, dass sich im Schnitt in einem Jahr Organizing-Arbeit die Erlebnisse von vier normalen Lebensjahren ballen.

Wenn ich mit diesem Text auf über ein Jahrzehnt Organizing-Arbeit in meinem ehemaligen Betrieb, aber auch als Hauptamtlicher einer großen deutschen Gewerkschaft zurückblicke, muss ich sagen, er hatte ohne Zweifel recht. Denn in diese Zeit fallen verdammt viele Erlebnisse.
Da ist der Scheiß-Streik in der Behindertenassistenz, also die Unterstützung bei der Durchführung einer neuen, fäkalen Streikform. Da ist der Aufbau des Netzwerks der «Unabhängigen Arbeitnehmervertretungen in der persönlichen Assistenz» (UAPA), in dem zeitweise ein Dutzend Betriebsratsgremien aus der ganzen Bundesrepublik kämpferisch und mit kaum institutioneller Unterstützung zueinander fanden. Da ist der Weg zum ersten Tarifvertrag in der deutschen Behindertenhilfe beim CeBeeF Frankfurt, der am Ende klassisch von meinen Ex-Kollegen mit brennenden Streiktonnen gegangen wurde.
Da ist die Beteiligung am ersten Organizing-Blitz in der IG-Metall-Geschichte im damals zugefrorenen Ostfriesland. Da ist der erste erkämpfte Tarifvertrag in der deutschen Wind­industrie bei REpower. Da ist die Konzeptionierung eines Organizing-Projekts mit insgesamt 27 Vollzeitstellen und der Aufbau eines famosen Organizing-Teams zu Beginn des Projekts. Da sind superviele Erinnerungen an weitere kleine Begebenheiten und außergewöhnliche Menschen in den verschiedensten Betrieben und Regionen – durfte ich doch im Laufe der Jahre neben anderen an so entlegenen Orten wie Emden, Rendsburg, Köln, Lörrach und Eberswalde tätig sein.
Aber: Trotz eines gewissen persönlichen Stolzes geht es hier nicht darum, das Lied vermeintlicher Heldentaten zu singen und damit auch Gewerkschafts-Organizing in irgendwelche Höhen zu heben. Vielmehr treibt mich seit geraumer Zeit etwas um, ein merkwürdigen Missverhältnis, wenn ich so über die Bilanz meiner Organizing-Jahre nachdenke.
Zugespitzt formuliert: Auch wenn ich seit mehr als einem Jahrzehnt entweder selber an einem spannenden Organizing-Projekt beteiligt war oder aus der Ferne mit solchen Projekten mitfiebern durfte – die Welt der deutschen Gewerkschaften und der deutschen Linken erscheint mir merkwürdig unverändert. Ich habe nicht den Eindruck, dass Organizing die sozialen Verhältnisse in diesem Land besonders zum Besseren verändert hat. Als Frage formuliert: Wie kommt es, dass mich (und andere Organizer) die Erfolge der eigenen Praxis weitermachen lassen, während ich gleichzeitig keinen größeren politischen Effekt trotz dieser Erfolge konstatieren kann?
Dass diese Frage mehr als ein Anflug von Pessimismus ist, zeigt auch ein Blick in das Mutterland des Organizings, die USA. Seit Jahren werden von dort unablässig große Organizing-Erfolge über den Teich an die deutsche Linke gemeldet. Aber trotz allem Respekt vor der tollen Arbeit unserer US-Genossen: Von einem Gewerkschafts-Revival sind die USA weit entfernt, die US-Linke kann vielmehr froh sein, vor­übergehend knapp einer rechten Diktatur entgangen zu sein.

«Bastard-Organizing»
Versuche ich nun dieses Missverhältnis zu verstehen, dann kreisen meine Gedanken letztlich um eine Reihe von Stichwörtern.
Das erste Stichwort lautet: «faule Kompromisse». Das meint: Seitdem ich als hauptamtlicher Gewerkschafts-Organizer arbeite, begleiten mich diese faulen Kompromisse unablässig, bin ich es gewohnt, dass überwiegend da, wo Organizing draufsteht, nur sehr selten Organizing drin ist. Das liegt zum einen an gewerkschaftlichen Entscheidungsträgern, die weder über genügend Organizing-Kenntnisse verfügen, um sachlogisch saubere Entscheidungen zu treffen, und die überwiegend unter geduldiger Basisarbeit nur Mitgliedererfolge verstehen. Es liegt zum anderen ebensosehr an der Hinnahmebereitschaft vieler Organizer – mich eingeschlossen! –, die sich häufig genug nach etwas Murren mit den faulen Kompromissen abfinden, statt renitent zu bleiben.
Die Folge dieser faulen Kompromisse ist das, was ein Kollege von mir etwas roh und bitter als «Bastard-Organizing» bezeichnet. Also ein «Organizing», in dem man mit einer schnellen Aktion versucht, möglichst viele Mitglieder zu machen. Ein «Organizing», dass oftmals nach kurzer Zeit schnell beendet wird, weil in dem Betrieb vermeintlich nichts geht oder es die Organisation so will. Ein «Organizing», das träumt, große Betriebe und Branchen zu erschließen, im Ansatz aber zum Scheitern verdammt ist, weil personell unterbesetzt. Ein «Organizing», das mitunter zu einem reinen Vermittlungs-Instrumentarium degradiert wird, denn viele gewerkschaftliche Führungskräfte sind zutiefst davon überzeugt, dass sie die richtigen Programme und Parolen nur in die Köpfe der Leute bekommen müssen.
Im Ergebnis bedeutet dies: Mein Eindruck als hauptamtlicher Organizer seit Jahren auf der Stelle zu treten, ist teilweise Folge des Umstands, dass die Erfolge, die ich oder Kollegen von mir erreichen konnten, letztlich von den vielen Organizing-Halbheiten wieder aufgefressen wurden. Und auch wenn ich hier darauf verweisen könnte, dass ich nur ein kleines Rädchen in einer großen Maschine bin, muss ich doch ehrlich sagen: Ich habe mich fast immer gefügt, wenn mir diese Halbheiten vorgeschrieben wurden, ich bin also ein Teil des Problems.
Doch diese Organizing-Stagnation im Gewerkschaftsapparat leitet sogleich zur nächsten Frage über: Warum arbeite ich dann weiter als Gewerkschafts-Organizer? Warum ziehe ich nicht die Konsequenz aus dieser Stagnation und bemühe mich um den Aufbau von Organizing-Projekten außerhalb der Gewerkschaften? Diese Frage nervt mich auch deshalb, weil ich meine besten Organizing-Erfahrungen und -Erfolge hatte, als ich als Betriebsrat in einem Verein der Behindertenassistenz begann, mit Organizing-Methoden zu arbeiten.
Fehler waren erlaubt und ich habe viel gelernt in dieser Zeit. Keine Idee war zu verrückt, als dass ich nicht versucht hätte, sie mit meinen Kollegen umzusetzen. Und es war einfach ein geiles Gefühl nach mehreren Jahren mitzuerleben, wie eine einstmals passive und vereinzelte Belegschaft plötzlich sogar das Stadtparlament im Frankfurter Römer belagerte, um gerechte Löhne im Sozialrathaus finanziert zu bekommen.
Warum also nicht zurück zu diesen Ursprüngen?

Biografische Radikalität
Nun, nicht nur die Frage ist unangenehm, auch meine Antwort fällt schwammig aus. Auf einer ersten Ebene würde ich sagen, dass ich die Hoffnung auf eine Veränderung der deutschen Gewerkschaften nicht aufgegeben habe. Auf einer zweiten Ebene muss ich mir eingestehen, dass mein gut bezahlter und sicherer Gewerkschaftsjob mich zurückhält, denn es fühlt sich individuell gut an, in diesen Zeiten materiell auf der sicheren Seite zu stehen. Und auf einer dritten Ebene habe ich nicht vergessen, wie kräftezehrend es war, neben der Arbeit als Behindertenassistent ohne Gewerkschaftsunterstützung für wenig Lohn jahrelang in intensive Mobilisierungsprozesse eingespannt zu sein, Schlafprobleme, Psychotherapie und viel, viel Erschöpfung inklusive.
Zusammengefasst bringt mich das auf das zweite Stichwort, das mich immer wieder beschäftigt: biografische Radikalität. Denn warum auch immer, mir fehlt schlicht der Mut, meine Erwerbslaufbahn oder meine Gesundheit für ein politisch radikales Organizing-Projekt aufs Spiel zu setzen. Und auch auf die Gefahr hin, den Vorwurf zu ernten, von der persönlichen Mutlosigkeit ablenken zu wollen: Mein Eindruck ist, dass ich kein Einzelfall bin. Vielmehr ist Gewerkschafts-Organizing ein Arbeitsfeld geworden, in dem sich in den letzten Jahren viele linke Bewegungsakademiker materiell gut platzieren konnten.
Dabei möchte ich nicht falsch verstanden werden: Ich kann, im Glashaus sitzend, niemandem vorwerfen, dass er einen gut bezahlten Job im DGB annimmt. Aber ich kann bemerken, dass diese Platzierungspraxis selbstverständlich politisch nicht folgenlos ist. Denn die nichtinstitutionelle Linke verliert beständig gute Leute, kommt in Sachen Organizing bisher nur punktuell vom Fleck und sorgt so mit dafür, dass die Verhältnisse stagnieren.
Und innerhalb der Gewerkschaften schwanken rekrutierte radikale Linke wie ich zwischen offenem Frust, wiederkehrender Hoffnung, dem Verdacht des Selbstbetrugs und offener karrieristischer Anpassung – aber auch da geht es kaum voran.
Als ob diese Bilanz nicht schon widersprüchlich genug wäre, kommt hinzu: Die gesellschaftliche Situation kompliziert sich gegenwärtig ungemein. Klimakollaps, Corona-Krise, unsere imperiale Lebensweise, Rechtspopulismus, industrieller Strukturwandel, «Abstiegsgesellschaft» (Oliver Nachtwey) usw. – nicht nur diese leicht erweiterbare Menge der Schlagworte macht deutlich, wie aufgeladen die Zeiten sind.
Zu alledem kommt hinzu, dass wir alles haben, nur eins nicht: Zeit! Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich mit Blick auf die mir fehlende biografische Radikalität den Mund nicht zu weit aufreißen sollte, ein wenig will ich es dennoch wagen. Denn in der Sackgasse, in der wir uns immer deutlicher wiederfinden, kann man meines Erachtens nur zwei Dinge tun: man kann resignieren oder man kann etwas riskieren.

SOrganizing!
Wenn mir die Resignation auch nicht fern liegt, so denke ich, dass wir als Organizer versuchen sollten, Organizing jenseits der bisher gegangenen Pfade weiterzuentwickeln. Oder mit dem dritten Stichwort formuliert: Warum nicht weniger Organizing und mehr SOrganizing? SOrganizing wäre, kurz gesagt, der Versuch, Organizing viel konsequenter am Themenfeld «Sorge/Gesundheit/Körper» auszurichten. Die wichtigsten Gründe hierfür sind meines Erachtens die Folgenden:
Erstens: Gesundheit war schon vor der Pandemie ein Themenfeld, das eng mit neoliberalen Ausbeutungspraxen verknüpft war. Die vielen Studien über die Zunahme von psychischen Erkrankungen sind nur ein Beleg.
Zweitens: In Zeiten der ökologischen Prä-Apokalypse mit all den zusätzlichen Implikationen für die Gesundheit der Menschen muss linke Politik ihre biopolitischen Implikationen intensivieren.
Drittens: Eine Synthese von Sorgepolitik und Organizing im SOrganizing würde nicht nur dem Wohlbefinden des menschlichen Körpers endlich jene politische Bedeutung einräumen, die der Körper in der fortschritts- und wachstumsorientierten Linken des 20.Jahrhunderts keineswegs hatte. Wenn Menschen bereit wären, für ihre Gesundheit und ihren Körper zu kämpfen, dann wäre dies auch ein großer Schritt in Richtung eines neuen und nachhaltigen Naturverständnisses.
Und viertens schließlich: Die meines Erachtens spannendsten politischen Projekte in der BRD spielen sich im Sorgebereich ab – zum einen das Ver.di-Organizing in den Krankenhäusern, zum anderen der Aufbau von Polikliniken in mehreren deutschen Städten.
Und auch das: Körperpolitik wird in vielen verschiedenen linken Praxen bereits thematisiert und vorgedacht. Wir würden im SOrganizing also nunmehr daran gehen, Brücken innerhalb der Linken zu bauen. Brücken, die es unbedingt braucht, möchte die zersplitterte Linke noch irgendeine Rolle spielen.

*Slave Cubela hat seit Jahren für den express geschrieben und arbeitet haupt­beruflich für eine «große deutsche Gewerkschaft».

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