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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2021

Rezension zur Situation in Bremen und Gdansk
von Renate Hürtgen

Sarah Graber Majchrzak, Arbeit-Produktion-Protest. Die Leninwerft in Gdansk und die AG „Weser“ in Bremen im Vergleich (1968-1983), Köln 2921, 563 S., ISBN 978-3-412-51917-9

Dieser Vergleich der Leninwerft in Gdansk und der AG „Weser“ in Bremen in den Jahren 1968 bis 1983 öffnet den Blick dafür, wie sehr sich die äußeren Bedingungen in diesen Jahren für den Schiffbau in Polen und der Bundesrepublik ähnelten und vor allem, wie viel die Schiffbauer*innen hüben wie drüben verband. Das scheint mir überhaupt die wichtigste Erkenntnis aus der Arbeit von Sarah Graber Majchrzak zu sein, dass das Lohnarbeiterdasein ungeachtet unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme zu den gleichen Verhaltensweisen der Arbeiter*innen führte. Immer ging es darum, die Arbeitskraft nicht unter Wert zu verkaufen, sich gegen Rationalisierung und Intensivierung oder auch gegen eine Produktion zu wenden, die keine „ordentliche“Arbeit und keinen Lohn einbrachte, der ein auskömmliches Leben ermöglichte. In Bremen wie Gdansk führten solche Arbeitskämpfe gleichermaßen nicht nur zu einer Politisierung der Akteure, sie sind immer auch mit einem Kampf um die eigene Würde verbunden gewesen. Die fast gleichzeitigen Besetzungen der Danziger Leninwerft am 14. August 1980 und die der AG „Weser“ am 19. September 1983 zeigen das eindrucksvoll.

Um diesem Grad an Gemeinsamkeit eine theoretisch-historische Grundlage zu geben, ordnet die Autorin den Schiffbau hüben wie drüben in das fordistische 20. Jahrhundert ein, dessen Produktionsregime, wenn auch nicht immer in „Reinform“, Arbeit und Protest auf beiden Werften bestimmt habe. Das ist ein lohnenswerter Zugang. Problematisch erscheint mir jedoch, dass „Fordismus“ hier weitgehend auf die Arbeitswelt beschränkt und die „Massenproduktion“ von Konsumgütern ausgespart bleibt. Diese Seite des Lohnarbeiterdaseins außerhalb der Produktion ist in Sarah Graber Majchrzaks Buch kein Thema, dem Vergleich der Lage von Lohnarbeiter*innen bei der AG „Weser“ und auf der Leninwerft in Gdansk fehlt so ein entscheidender Aspekt.

Wenn der Staat als „Gesamtunternehmer“ Löhne und Preise festlegt

Die ersten zweihundert Seiten sind dem Schiffbau in Polen und Deutschland am Beispiel der beiden traditionsreichen Werften im 20. Jahrhundert gewidmet. Wir erfahren, dass der Staat, nicht nur in Polen, wo der Schiffbau seit 1958 konzernähnlich strukturiert und direkt dem Ministerium für Schwerindustrie unterstellt war, sondern auch in der Bundesrepublik, einen maßgeblichen Einfluss auf die Schiffbauindustrie hatte, etwa mit Subventionen, Krediten und Steuernachlässen in die „Schlüsselindustrie“ eingriff. Diese „Schutzfunktion“, die allerdings – wie die Autorin betont – stets erkämpft werden musste, begründete sich nicht zuletzt aus einer besonderen Abhängigkeit der Schiffbauindustrie von den Vorgängen auf dem Weltmarkt, der Ende der 1960er Jahre mit der Öffnung des Exports für Staaten außerhalb des RGW nun auch verstärkt für die polnischen Werften galt. Infolge der Ölpreiskrise, der vorübergehenden Schließung des Suezkanals und der verstärkten Konkurrenz, namentlich durch die japanischen Werften, kam es im Schiffbau zu einer Absatzkrise, die zugleich Motor für einen grundlegenden Wandel in der industriellen Produktion werden sollte. Wir erfahren auch, dass die Modernisierung, die Umstellung auf rationalere Arbeitsgänge, Standardisierung und Automatisierung sowie auf neue Informationstechnologien im Schiffbau mit sehr vielen branchenbedingten Problemen verbunden war.

Das eigentliche Interesse der Autorin gilt jedoch der Lage der Arbeiter*innen und deren Protesten. Anfang der 1970er Jahre arbeiteten auf der AG „Weser“ ca. 4.000 und auf der Leninwerft in Gdansk 16.600 Menschen. Wie in allen staatssozialistischen Ländern war auch in Polen die extensive Industrieproduktion mit einem hohen Bedarf an vor allem unqualifizierten Arbeitskräften bis in die 1970er Jahre bestimmend. Um diesen Bedarf zu decken, arbeiteten viele Arbeiter-Bauern auf den Werften, die ihren Hauptwohnsitz in der Stadt und Bauern-Arbeiter, die ihren Lebensmittelpunkt weiterhin auf dem Dorf hatten. In ihrem niedrigen Status wären sie den ausländischen Arbeiter*innen in der Bundesrepublik nicht unähnlich gewesen. Das Problem: Der polnische Staat hatte aus Kostengründen eine notwendige Modernisierung verhindert, die Leistungsanforderungen, aber nicht die Löhne erhöht. So sei es 1970 zu Protesten gekommen, die nicht nur die Werften erfassten. Der damalige Erste Parteisekretär, Edward Gierek, leitete unverzüglich einen Modernisierungsplan ein, erhöhte die Investitionen, was kurzzeitig höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen brachte. Schon nach wenigen Jahren war nicht nur der Schiffbau, sondern die gesamte Wirtschaft Polens von einer nächsten Krise erfasst, die zu Betriebsbesetzungen, Massenprotesten und 1981 zur Gründung von Solidarnosc führte. Damit ist ein typisches Protestszenarium auf polnischen Werften beschrieben. Anders als die Streiks und Proteste bei der AG „Weser“ waren hier die Proteste stets an die regierende Partei, an den „Gesamtunternehmer“ Staat gerichtet, der allein die Löhne und Preise festlegte; und sie nahmen immer den Charakter eines gesellschaftlichen Massenwiderstandes an. Um Verbesserungen der Arbeits- und Lebenslage auf der Werft zu erreichen, brauchte es im staatssozialistischen Polen eine kleine Revolution.

Gepflegte Co-Management Politik bei „Weser“ und auf der Leninwerft eine „Arbeiterselbstverwaltung“ in der Hand der Partei

In mehreren Kapiteln beschreibt Sarah Graber Majchrzak dann die sogenannten Arbeitsbeziehungen und die Formen der Konfliktaustragung in der AG „Weser“ und in der Danziger Werft im behandelten Zeitraum. Hauptakteur auf Seiten der Weser-Beschäftigten waren der Betriebsrat und die IG Metall, die sich derzeit wohl auf dem Höhepunkt ihrer gewerkschaftlichen Mitbestimmung befanden. 85 Prozent der Weser-Beschäftigten waren organisiert, und die personellen Verbindungen zwischen Betriebsrat bzw. Gewerkschaften und dem Bremer Stadtrat besonders eng. Diese gepflegte Co-Management Politik wurde immer wieder durch unabhängige Betriebsgruppen, aber auch durch den Betriebsrat selber infrage gestellt und weiter getrieben. Im Zuge einer Absatzkrise im Schiffbau, Rationalisierungen und Arbeitsplatzabbau im großen Stil Ende der 1970er Jahre sei die IG Metall in dieKrise geraten; ihr Versuch, den Arbeitsplatzabbau mit Hilfe von regionalen Strukturplänen abzuwenden, sei gescheitert. AG „Weser“ wurde Ende 1983 geschlossen. Spannend die internen Diskussionen in der IG Metall über das neue neue Mitbestimmungsgesetz 1976 und die Angemessenheit von Betriebsbesetzungen und politischen Aktionen anlässlich solcher „heiklen Sachen“ (Hans Mayer) in Bremen und Hamburg, die 1985 endgültig als rechtswidrig vom IG-Metallvorstand abgelehnt wurden (498).

Kenntnisreich sind die „Arbeitsbeziehungen“ auf der Danziger Leninwerft dargestellt, die sich trotz systemischer Gemeinsamkeiten in einigem von denen z. B. in der DDR unterschieden. Ein überdimensioniertes Vertretergeflecht aus dem Präsidium des Betriebsrates, einem zentralen Arbeiterrat und dem parteilichen Betriebskomitee (POZ) bildeten zusammen mit Vertreter*innen der Betriebsleitung, Vertretern der technischen Intelligenz und der Industrievereinigung das höchste Leitungsgremium der Werft, die sogenannte Arbeiterselbstverwaltungskonferenz. Der Betriebsrat war die gewerkschaftliche Vertretung, deren Funktion auf die Verteilung sozialer Güter beschränkt blieb; im Arbeiterrat hatte die Partei die entscheidende Stimme, der im Ergebnis eines neuen Arbeiterselbstverwaltungsgesetzes 1958 ohnehin die Entscheidung über alle ökonomischen Belange des Betriebes zugesprochen worden war. Eine derart massive Zurückdrängung selbst der formalen Zuständigkeiten der Gewerkschaften durch die Partei kann wohl auch eine weitere Erklärung dafür sein, dass die Arbeitskämpfe in Polen rasch einen systemverändernden, die Monopolstellung der Partei infragestellenden Charakter annahmen. Die Verhängung des Kriegsrechts 1981 als Reaktion der Regierung auf die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc zeigt dies eindeutig.

Hinzu kommt, dass die Arbeitskämpfe bei „Weser“ in einer gesellschaftlichen Situation geführt wurden, die von einer kontinuierlichen Anhebung des allgemeinen Lebensstandards und erst am Ende des hier betrachteten Zeitraums von massiver Arbeitslosigkeit geprägt war. In Polen waren die Kämpfe der Werftarbeiter*innen um höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, um Wohnraum oder auch um mehr Mitsprache Teil einer allgemeinen Mangelsituation, die zeitweise existenziellen Charakter annahm. Die Kapitel über die Arbeitszeiten, die Arbeitsbelastung, die Entlohnung oder über die betriebliche Sozialpolitik im Vergleich der beiden Werften beschreiben diese Zusammenhänge eindrucksvoll. Während die wöchentlichen Arbeitszeiten für die westdeutsche Schiffbauindustrie bereits 1956 auf 45 Stunden bei einer 5-Tage-Woche festgelegt worden waren und 1967 die 40-Stunden-Woche tariflich abgesichert war, wurde auf den polnischen Werften 46 Stunden in einer 6-Tage-Woche zum Teil im Dreischichtbetrieb gearbeitet. Einige zögerliche Bemühungen, den Sonnabend arbeitsfrei zu halten, wurden mit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 wieder zurückgenommen.

Mit der Arbeitszeitverkürzung und der Umstellung weg vom Akkordlohn auf den sogenannten Programmlohn ab Mitte der 1960er Jahre – einer Kombination von Zeitlohn und Prämien – nahm auf der AG „Weser“ die Arbeitsintensität signifikant zu; größere Hektik und regelmäßige Überstunden bestimmten den Arbeitsalltag und wurden Teil der gewerkschaftlichen Kämpfe. Auch auf der Danziger Werft wurden Überstunden „gekloppt“; sie dienten als Möglichkeit, das Einkommen, das nicht immer ausreichte, die Familie zu ernähren, zu erhöhen, hatten aber aufgrund schlechter Arbeitsorganisation ein Ausmaß angenommen, das kaum noch zu verkraften gewesen sei. Die Protestbewegungen 1970/71, 1976 und 1980 haben jeweils für ein kurzes Jahr sowohl zur Arbeitszeit- als auch zur Überstundenkürzung auf der Werft geführt. Bei AG „Weser“ führten die Absatzschwankungen zu Überstunden, auf der Danziger Werft seien es Chaos und Desorganisation der Produktion gewesen.

Der Kampf um Lohnerhöhungen hatte in beiden Lohnarbeiter-Gesellschaften Priorität. Sarah Graber Majchrzak beschreibt zwischen 1970 und 1980 bei der AG „Weser“ eine Steigerungsrate von bis zu 26 Prozent und auf der Danziger Werft nach den Protesten 1970 eine von 40 Prozent, die kurze Zeit später zurückgenommen worden sei. Leider sagen solche Zahlen wenig über das tatsächliche Reproduktionsniveau der Arbeiter*innen in Polen und Deutschland aus.

War die „sozialistische“ der kapitalistischen Rationalisierung vorzuziehen?

In beiden Werften hatten die betrieblichen Sozialleistungen neben den Löhnen, der Arbeitszeit oder der Arbeitsorganisation entscheidenden Einfluss auf die Situation der Beschäftigten und den Grad ihrer Identifikation mit dem Werk. Es leuchtet ein, dass die breite Palette von betrieblichen Sonderzahlungen für die AG „Weser“-Beschäftigten wie Betriebsrenten, Winterhilfen, Sterbegeld, finanzielle Hilfen für den Bau von Wohneigentum, zahlreiche betriebliche Kultur- und Sportvereine sowie eine eigene Kleingartenanlage das Gefühl der Zugehörigkeit zu „use Aksche“ (unsere Aktiengesellschaft) sehr bestärkt hat. Und wie war das mit der Betriebsidentifikation auf der Leninwerft? Auch hier gab es ein ausgebautes Netz betrieblicher Sozialleistungen in Form von Sonderzahlungen und Sozialleistungen wie die Vergabe von Wohnraum, kostenlosem Werkessen und Gesundheitsversorgung; Kioske entstanden auf dem Werksgelände, die Dinge des täglichen Bedarfs anboten, welche in der Stadt nicht oder nur schwer zu haben waren, wie etwa Kartoffeln, Zwiebeln oder Kohle. Zudem habe sich eine Schattenwirtschaft mittels ausländischer Schiffe entwickelt; „gehandelt“ worden sei mit Seife und Shampoo. Wie in Bremen auch gab es zahlreiche kulturelle Einrichtungen, ein Kino, eine Bibliothek oder ein Kulturhaus, welche mit der allgemeinen Verschlechterung des Warenangebots und der Sozialleistungen ab Mitte der 1970er Jahre jedoch geschlossen wurden. Die Begünstigten bei der Verteilung der knappen Güter waren zunehmend das Leitungspersonal und die technische Intelligenz.

In ihrem Fazit konfrontiert uns die Autorin mit der Behauptung, dass die Arbeitszeit – anders als bei der AG „Weser“ – auf der Danziger Werft auch Lebenszeit gewesen sei, was mit dem Charakter der staatssozialistischen Gesellschaften erklärt wird, wo es keine eindeutige Trennung von Arbeit und Nichtarbeit gegeben hätte. Das ist fragwürdig, ebenso wie die Passagen über den auf der Danziger Werft lange dominierenden Akkordlohn, der, wie auch die chaotische Arbeitsorganisation, zu geringeren Kontrollmöglichkeiten für die Betriebsleitung und im Umkehrschluss zu mehr Selbstbestimmung der Arbeiter*innen geführt habe. Die richtige Kritik an der kapitalistischen Rationalisierungspolitik bei Weser wendet die Autorin derart, dass die fehlende Modernisierung auf der polnischen Werft zum Vorteil der Arbeiter*innen avanciert. Solche einfachen Schlussfolgerungen gehen leider an der Realität, aber auch an dem, was Sarah Graber Majchrzak selber zuvor geschrieben hat, vorbei. Das nun ist so spannend, differenziert und kenntnisreich formuliert, dass jeder und jede seine eigenen Schlüsse ziehen kann.

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