Im Umgang mit der Pandemie gibt es einen auffallenden Widerspruch zwischen der wachsenden wissenschaftlichen Rationalität und der politischen Irrationalität
von Bini Adamczak*
Man kann das Virus nicht sehen. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass viele nicht daran glauben wollen. Das herkömmliche Lichtmikroskop versagt in Anbetracht der Viren, denn sichtbare Lichtwellen sind schlicht zu lang für diese kleinen Körper.
In den Tiefen der submikroskopischen Welt scheint das Licht nur unscharf, hier gibt es keine Farben.
Wir mögen Sars-CoV-2 aus Social Media und Stickersets in grün kennen, mit roten Spikes oder aus der 3D Fotografie in lila mit rosa Spikes. Tatsächlich existiert es nur in Schwarzweiß, weil es nicht gesehen werden kann, sondern nur ertastet. Nicht mit Fingern oder Wimpern versteht sich, aber mit dem Elektronenstrahl eines Elektronenmikroskops. Dass Elektronen sich hierfür eignen, weil sie sich zu kurzwelligen Strahlen bündeln lassen, ist erst seit 1924 bekannt. Tatsächlich gebaut wurde das erste Elektronenmikroskop dann 1931.
Auch wenn Viren älter sind als jedes Leben auf der Erde, können sie von Menschen so erst seit weniger als hundert Jahren direkt beobachtet werden, zur Zeit der Spanischen Grippe war der unsichtbare Krankheitserreger noch unbekannt. Erst in den 1930er Jahren ließ sich der Nachweis erbringen, dass es ein Virus war, das Millionen von Menschen das Leben gekostet hatte.
Die Pandemie hat ein und dasselbe Thema weltweit auf die Tagesordnung jedes Gesprächs gesetzt (zumindest zeitweise, für Menschen in Vietnam oder Neuseeland ist Covid fast nur noch aus Auslandsberichten bekannt). Wann immer sich zwei Bekannte nach längerer Zeit auf der Straße treffen, werden die Veränderungen, die das Virus und seine Bekämpfung in ihren Leben hinterlassen hat, Erwähnung finden.
Damit ist zugleich ein spezialisiertes wissenschaftliches Wissen – der Virologie, Epidemiologie, Immunologie usw. – an die breite Öffentlichkeit gelangt, Wörter wie exponentielles Wachstum, R-Werte, Inzidenzen, PCR und RNA haben Alltagsrelevanz erhalten. Das ist in dieser Weise selbst den Scientists for Future in der Klimabewegung der letzten Jahre nicht gelungen.
Die Intensität und der Umfang des gesellschaftlichen Diskurses zu naturwissenschaftlichem Wissen überschreiten vergangene Tagesevents wie den KI-Schach-Computer Deep Blue, das geklonte Schaf Dolly oder auch die Mondlandung und lassen sich vermutlich nur mit den Auseinandersetzungen um Nukleartechnologie vergleichen, die in den 1980ern ihren Höhepunkt erreichten.
Vor dem Hintergrund der erweiterten wissenschaftlichen Rationalität tritt die politische Irrationalität noch deutlicher zutage. Nicht vor allem die Fake News und Verschwörungstheorien, die an den Rändern und in den Nischen der Gesellschaft blühen, sondern die verblüffende Stumpfsinnigkeit der Mitte, die die politischen Entscheidungen bestimmt. So präzise die Prognosen, mit der die pandemischen Wellen vorhergesagt wurden, so groß die Überraschung, wenn sie tatsächlich eintraten.
Gegen alle Evidenz handelten Politikerinnen in der Überzeugung, das Problem müsse sich im Herbst von alleine lösen, oder verkündeten schamlos die Hoffnung, das warme Wetter im Frühling werde schon alles besser machen. Noch nach einem Jahr Pandemie meinten sie, es reiche in Innenräumen Abstand zu halten, als hätten sie noch nie etwas von Aerosolen gehört.
Zuweilen dringt durch, dass diese Irrationalität selbst einer Rationalität folgt. Der Schutz des Lebens, heißt es dann, dürfe nicht über den Schutz der Wirtschaft gestellt werden. Schließlich dient die Wirtschaft nicht den Menschen, sondern die Menschen der Wirtschaft. Aber was, wenn China, obwohl es zuerst vom Virus getroffen wurde, wirtschaftlich besser aus der Pandemie herauskommt als der Westen – was die Wachstumszahlen nahelegen? Was, wenn selbst die kapitalistische Ökonomie von einer schnellen Beendigung der Pandemie eher profitiert hätte als von mindestens eineinhalb Jahren Gummilockdowns – worauf viele Studien hinweisen?
Zur Zeit seines Aufstiegs hat sich das Bürgertum seines Realitätssinns gerühmt; während die Unterworfenen – Schwarze, Frauen, Proleten – dem Lustprinzip gehorchten, könne der weiße, männliche Bürger Triebverzicht leisten und den kurzfristigen Genuss zugunsten des langfristigen Gewinns aufschieben. Ein Profit wird nicht konsumiert, sondern investiert – nur das ermögliche das Wachstum der reichen Nationen. Das war immer schon Ideologie einer Bourgeoisie, die die Kooperation der Konkurrenz unterordnet und sich deshalb Gemeinschaft nur in Form eines Staatsleviathans denken konnte, der das Allgemeininteresse mit Polizeigewalt gegen die streitenden Partikularinteressen durchsetzt.
Wenn jede nur um ihren eigenen Vorteil bedacht ist, fällt es schwer, gemeinsam Pläne zu schmieden. Dennoch gibt die weitgehend gescheiterte Pandemiepolitik des Westens Anlass zur Frage, ob die Finanzialisierung des Kapitalismus mit immer kurzfristigeren Anlageverschiebungen nicht zu einem weiteren Verlust von Planungsfähigkeit geführt hat. «Wir fahren auf Sicht» ist seit über einem Jahr die explizite Formel dieser Coronapolitik, die damit vor allem ihre Kurzsichtigkeit eingesteht.
Die Menschheit, die immer mehr Wissen über immer kleinere Bereiche hervorbringt, scheint nicht allzu viel mit diesem Wissen anfangen zu können.
*Bini Adamczak schreibt u.a. zu den Themen Kommunismus und queere Sexualität. Ein Bestseller ist ihr Kinderbuch Kommunismus. Kleine Geschichte wie alles anders wird, es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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