Shantys verbinden
von Kai Böhne
Shantys sind Seemannslieder, genauer gesagt Arbeitslieder, deren rhythmischer Takt die Matrosen bei ihrer körperlichen Arbeit unterstützen, anspornen und unterhalten soll. Der junge schottische Postbote, Nathan Evans, verschaffte dieser Tage einem 160 Jahre alten Shanty zu ungeahnter Popularität.
Normalerweise ist Evans viel an der frischen Luft und trägt auf der schottischen Hochebene in der 37000-Einwohner-Stadt Airdrie, rund 20 Kilometer östlich von Glasgow, Briefe und Pakete aus. Sein Hobby ist die Musik und das Nachsingen von Pop- und Folksongs, die er auf Social-Media-Kanäle hochlädt.
Zum Jahresende 2020 kam es zu einem Überraschungserfolg. Einer seiner Follower hatte Nathan auf Shantys aufmerksam gemacht. Daraufhin stellte Nathan seine Version des neuseeländischen Walfanglieds «Soon may the Wellerman come» auf der Video-Plattform TikTok ein. Im Kapuzenpullover, mit schwarzer Wollmütze klopfte er in seinem Zimmer den Rhythmus mit der Faust gegen den Korpus seiner Gitarre. Die Duett-Funktion der Videoplattform ermöglichte die Beteiligung seiner Zuhörer, so entstanden mehrstimmige Seemannschöre.
Trost während der Pandemie
Während der Corona-Pandemie trifft der Call-and-Response-Song, ein Wechselspiel zwischen Ruf des Vorsängers und Antwortrefrain des Chors den Nerv vieler Menschen. Das Seemannslied handelt von Einsamkeit, es passt in diese Zeit, in der alle zu Hause festsitzen und ihre Freunde nicht sehen können. «Jeder kann mitmachen, mitsingen, mit den Füßen stampfen, in die Hände klatschen oder ein Instrument dazu spielen», betont Nathan Evans. Er möchte seinen Mitstreitern ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Innerhalb kürzester Zeit landete Nathans Song in mehreren Ländern auf Platz eins der Musikcharts. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, blickt Nathan zurück.
Wellerman heißt im Lied das Versorgungsschiff, das Walfänger mit Proviant und alltäglichen Dingen ausstattet. «Bald kommt der Wellerman, um uns Zucker, Tee und Rum zu bringen», lautet der Refrain, «eines Tages, wenn das Tonguin’ erledigt ist, werden wir unsere Sachen packen und gehen.» Tonguing nannte man die Arbeit der Männer, die den Wal nach dem Fang in Einzelteile zerlegten.
Shantys stiften Zusammenhalt
Bereits vor eineinhalb Jahrhunderten sorgten Shantys für konstruktive Zusammenarbeit an Deck und vertrieben Heimweh und trübe Gedanken. Die Lieder sorgten für gute Laune bei den Männern, die oft monatelang auf den Meeren unterwegs waren. «Die Einfachheit der menschlichen Stimme hat etwas sehr Mächtiges», weiß auch die Musiktherapeutin Claire Maddocks, «die Melodie dieser Lieder wiederholt sich immer wieder, ist sehr vorhersehbar und unser Gehirn liebt das.» Genau wegen dieser Schlichtheit haben die Seeleute im 19.Jahrhundert Shantys bei der Arbeit gesungen. Das gemeinsame Singen hat die schwere Arbeit leichter gemacht und ihr Gemeinschaftsgefühl gestärkt.
Nathan Evans, dem nach seinen Interneterfolgen ein Plattenvertrag angeboten wurde, hat nicht lange gezögert und die Gelegenheit beim Schopf gepackt, sich zukünftig von der Musik zu ernähren. Mit der rustikalen Schleswig-Holsteiner Folkpop-Band Santiano hat er eine gemeinsame Version seines Wellerman-Hits aufgenommen.
Seine Arbeit als Postzusteller hat er gekündigt. Wenn es nicht klappen sollte, ist es auch nicht schlimm, meint er, dann wird er wieder eine normale Arbeit aufnehmen. Aber diese einmalige Chance wollte er sich nicht entgehen lassen. Eins ist ihm bereits gelungen: Er hat mit seinem Gesang viele Menschen glücklicher gemacht und ein bisschen von den Corona-Sorgen abgelenkt.
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