Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2021

Berliner Krankenhausbewegung stellt Kliniken und Politik ein Ultimatum von hundert Tagen
von Violetta Bock

Pflegenotstand, Fachkräftemangel, und keine Besserung in Sicht? Die Politik dankt fürs Durchhalten – doch damit ist nun Schluss, zumindest in Berlin.

Am 12.Mai, dem internationalen Tag der Pflegenden, versammelten sich etwa tausend Gewerkschafter:innen vor dem Roten Rathaus und hinter einer langen Plakatrolle, auf der tausende Namen standen. Aufgerufen hatte Ver.di im Namen der Beschäftigten von Charité, Vivantes und deren Tochterunternehmen unter dem Motto: «Gebraucht, beklatscht, aber bestimmt nicht weiter so».
Sie übergaben den Politiker:innen der rot-rot-grünen Landesregierung und den Klinikleitungen ihre Forderungen. Kurz gesagt lauten sie: mehr Personal, TVöD für alle und eine bessere Ausbildungsqualität. Über 8397 Kolleg:innen haben nicht nur unterzeichnet, dass sie hinter den Forderungen stehen, sondern auch bereit sind dafür zu streiken, das sind 63 Prozent der betroffenen Beschäftigten.
Hundert Tage geben die Gewerkschafter:innen nun den Klinikleitungen und der Politik, um eine Lösung zu finden. Beschäftigte von verschiedenen Stationen und Abteilungen berichteten auf der Kundgebung von ihrem Alltag und warum sie sich entschieden haben, diesen Kampf aufzunehmen. Die Politiker:innen nahmen direkt danach Stellung, und natürlich versicherten alle ihre Unterstützung. Gemessen werden sie daran, was sie in hundert Tagen präsentieren. Die Kolleg:innen haben jedenfalls sehr deutlich gemacht, dass sie in dieser Zeit nicht untätig sein werden, sondern sich bereit machen für einen Streik, wenn es drauf ankommt.

Fortschritte wurden gemacht
Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems wird damit noch nicht umgekehrt werden, aber es eine weitere Stufe im Kampf für ein Gesundheitssystem beschritten, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Es gibt eben keine Abkürzungen. Die Verschiebung von Kräfteverhältnissen erfordert Beharrlichkeit und strategisches Vorgehen.
Die Beschäftigten von Charité, Vivantes und deren Tochterunternehmen in Berlin beweisen seit Jahren genau das. Organizing aus dem Lehrbuch: Kampagne für Kampagne wird konsequent daran gearbeitet, die Macht der Beschäftigten auszubauen und auch den Kolleg:innen klar und spürbar zu machen, dass es an ihnen liegt, eine Wende herbeizuführen.
Vor einem Jahr berichteten wir in der SoZ von dem Ruf nach einem Corona-Krankenhauspakt. Schutzausrüstung, eine monatliche Coronaprämie und schon damals die Anwendung des TVöD auch in allen Tochtergesellschaften von Charité und Vivantes, von der Köchin bis zur Krankenpflegerin, waren damals die drei zentralen Forderungen. In kurzer Zeit konnten 4000 Unterschriften im Sinne einer Mehrheitspetition gesammelt werden. Schutz und Prämie konnten durchgesetzt werden, eine grundsätzlich andere Finanzierung des Gesundheitssystems ist der weitere Weg. Schon damals wurden mit Methoden des Organizing Stück für Stück Strukturen aufgebaut, die nun weiter gefestigt und ausgebaut wurden. Im Herbst 2020 kam dann die Tarifrunde öffentlicher Dienst. Jetzt kamen bereits über 8000 Unterschriften für einen Tarifvertrag Entlastung zusammen.
Das Mittel der Mehrheitspetititon wird auch diesmal angewandt, d.h. es werden so lange Unterschriften unter konkrete Forderungen gesammelt, bis gezeigt werden kann, dass die Mehrheit der Beschäftigten dahintersteht. Die Forderung nach einem Tarifvertrag Entlastung ist damit in veränderter Form wieder nach Berlin gekommen, ganz im Sinne einer lernenden Organisation.
2015 waren es eben jene Beschäftigte der Charité, die bewiesen, dass man im Krankenhaus streiken kann und mit dem Fokus auf die Personalbemessung einen Stein ins Rollen brachten. Zahlreiche Gesundheitsarbeiter:innen haben sich seither auf den Weg gemacht und jedesmal wurde der Tarifvertrag ein klein wenig verbessert, in Mainz, in Jena, in Kiel. Denn der Tarifvertrag, der 2015 in Berlin durchgesetzt werden konnte, las sich zwar gut, brachte aber kaum Verbesserungen.
Inzwischen konnten Forderungen konkretisiert werden. Nun ermitteln die Stationen einen Personalbedarf; wird er zu oft unterlaufen, gibt es einen freien Tag. Das entlastet nicht nur die Beschäftigten, es erhöht auch den Druck, Personal einzustellen und vor allem durch bessere Arbeitsbedingungen zu halten.
Am 20.August läuft das Ultimatum, rechtzeitig vor den Bundestagswahlen und den Abgeordnetenwahlen in Berlin.

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