Im Assistenzdienst wird Pflegemindestlohn verweigert und die Gründung eines Betriebsrats verhindert
von Gerhard Klas
Ipsa-Vita ist der Name eines Dienstleistungsunternehmens aus Köln, das persönliche Assistenz für behinderte Menschen anbietet. Die etwa 200 Beschäftigten arbeiten in mehr als einem Dutzend Teams, die sich jeweils die 24-Stunden-Schichten für eine Klient:in aufteilen.
Die Teams haben untereinander wenig Kontakt. Ipsa Vita ist nur einer von mehreren Dutzend Anbietern allein in Köln, bei denen insgesamt mehrere tausend Beschäftigte in der persönlichen Assistenz arbeiten.
In den Stellenanzeigen hört sich alles ganz toll an: Für die 24-Stunden-Schichten, die Unterstützung der Klient:innen bei der «Grundpflege, der Arbeit sowie in der Freizeit» umfassen, bietet Ipsa Vita angeblich «faire Entlohnung» und ein «harmonisches Betriebsklima». Mit den beiden Geschäftsführern, den Gebrüdern Markert, sind viele Beschäftigte tatsächlich auf «du». Aber das ist nur die Oberfläche. Die schlechte Bezahlung und die unzumutbaren Arbeitsbedingungen brachten Mitarbeiter:innen eines Teams schließlich dazu, sich zur Wehr zu setzen.
Auslöser für die Aktivitäten der Beschäftigten bei Ipsa Vita war eine Mail vom 16.März 2020 im Auftrag der Geschäftsführung, die der Kölner Initiative work-watch vorliegt. Der Krankenstand sei so hoch, dass Ipsa-Vita auch über die flexibel einsetzbaren Springer:innen die Assistenz nicht mehr «abdecken» könne. «Da unsere Kund:innen eure Hilfe benötigen, bitten wir euch inständig, euch nicht auf ‹Verdacht› oder bei leichten Symptomen … krank zu melden», hieß es in der E-Mail weiter, die zu Beginn der Corona-Pandemie verfasst worden war.
Der nicht nur epidemiologisch zweifelhaften Bitte folgte eine klare Erpressung. Sollte es bei einem so hohen Krankenstand bleiben, «können wir bei der Lohnabrechnung nur zuerst die tatsächlich geleisteten Assistenzschichten vergüten, um die Assistenz unserer Kunden sicherzustellen».
Ein Team, das die seit einem Schlaganfall mit Anfang 30 im Rollstuhl sitzende Anama Fronhoff unterstützte, wollte sich nicht mehr alles gefallen lassen. Das Schreiben der Geschäftsführung sei angesichts der Pandemie «völlig verantwortungslos» gegenüber den häufig mehrfach vorerkrankten Kund:innen gewesen, so ein Mitarbeiter des Teams. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auszusetzen sei außerdem ein «Offenbarungseid, mit dem versucht wird, das unternehmerische Risiko auf uns Beschäftigte abzuwälzen».
Gegenwehr
Nach Beratung mit der Gewerkschaft Ver.di sowie dem bundesweiten Zusammenschluss der Unabhängigen Arbeitnehmer:innenvertretungen in der persönlichen Assistenz (UAPA) und work-watch setzten sich die bei Anama Fronhoff arbeitenden Assistent:innen zwei Ziele: die Gründung eines Betriebsrates und eine Bezahlung nach dem Pflegemindestlohn, aktuell 11,80 Euro pro Stunde.
Hoffnung machten ihnen vor allem die Erfahrungen bei anderen Trägern der persönlichen Assistenz: «Es gibt mindestens einige tausend Kolleg:innen bundesweit, die den Pflegemindestlohn erhalten oder sogar überschreiten», sagt Klaus Drechsel (UAPA) – vor allem diejenigen, die sich organisiert hätten.
Bei Ipsa Vita folgten Versuche der Vernetzung mit den Assistent:innen der anderen Teams – und Gespräche mit der Geschäftsführung. Die reagierte mit Abwehr. Sie «könnten nicht mehr Lohn zahlen, weil das Sozialamt zu wenig finanziere», zitieren Beschäftigte aus dem Gespräch. Laut Bundesanzeiger erzielte das Unternehmen jedoch 2019 einen Bilanzgewinn von 1,65 Millionen Euro.
Als einzelne Kolleg:innen versuchten, den Pflegemindestlohn über die Gewerkschaft Ver.di geltend zu machen, wurden die Gespräche abgebrochen und der Vertrag mit Anama Fronhoff gekündigt. Wegen der Zweckbefristung im Arbeitsvertrag endete damit auch die Beschäftigung ihrer persönlichen Assistent:innen zum Ende des Monats März 2021.
Kündigung durch die Hintertür
«Ich war geschockt», sagt Anama Fronhoff. Für die schwerbehinderte Rollstuhlfahrerin, die nach ihrem Schlaganfall mühsam wieder das Sprechen erlernt hat, war das eine harte Entscheidung. In einem kurzfristig anberaumten Zoom-Meeting wurde ihr als Grund mitgeteilt, «dass einer der Geschäftsführer eine Auszeit nehmen wollte». Als dieser Geschäftsführer am nächsten Tag auf eine Mailanfrage hin seine Bereitschaft erklärte, mit einer neue Assistenznehmerin einen Vertrag abzuschließen, fühlte sich Anama Fronhoff benutzt und hintergangen. Zudem sei es nicht einfach, «innerhalb eines Monats einen neuen Anbieter zu finden.»
«Uns sind aus den letzten Jahren mehrere Fälle bekannt, in denen gewählten Betriebsratsgremien die Arbeit erschwert wurde», meint Klaus Drechsel. Allerdings sei «die Verhinderung einer BR-Gründungsinitiative durch Kündigung der Kundin und damit des Assistent:innenteams ein uns bisher unbekannter, trauriger Höhepunkt». Er befürchte, «dass ein Fall wie dieser im Dunkelfeld bundesdeutscher betrieblicher Assistenz-Realitäten kein Einzelfall ist».
Nun sind mehrere Prozesse zu Kündigungsschutz und Pflegemindestlohn anhängig. Bei einem Gütetermin behauptete die Geschäftsführung, die Assistent:innen erbrächten «keine Pflegeleistungen, sondern nur Betreuungsleistungen». Deshalb stehe ihnen der Pflegemindestlohn nicht zu. Tatsächlich besteht ein Anspruch auf Pflegemindestlohn, wenn mindestens ein Viertel der Arbeit pflegerische Tätigkeit ist. Bei Anama Fronhoff, die vor ihrem Schlaganfall als Intensivpflegerin gearbeitet hat, ist das definitiv der Fall: Nach ihren Angaben beträgt die pflegerische Tätigkeit bei einer 24-Stunden-Schicht mehr als sieben Arbeitsstunden für Grundpflege und Toilette.
Auf Anfragen von work-watch hat die Geschäftsführung von Ipsa-Vita nicht reagiert. Doch Schweigen wird den Konflikt nicht lösen, der nicht nur auf juristischer, sondern auch betrieblicher Ebene weiter ausgefochten werden soll. «Wir unterstützen jeden mutigen Schritt solidarischer Selbstorganisierung unserer Kolleg:innen», sagt Klaus Drechsel von UAPA.
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