Haben oder Sein?
von Michael Löwy
Wie bisher können wir nicht weiterleben, das wissen wir. Aber muss eine Gesellschaft, die im Einklang mit der Natur wirtschaftet, in eine Diktatur der Bedürfnisse münden? Nein. Doch ohne Rücksicht auf die soziale Frage geht es nicht.
Der monströsen, für den Kapitalismus typischen Verschwendung von Ressourcen muss ein Ende gesetzt werden, da sie auf der großangelegten Produktion nutzloser und/oder schädlicher Produkte beruht. Das Problem ist nicht der überhöhte Konsum ganz abstrakt, sondern die Art des vorherrschenden Konsums – Erwerb ist ein Statussymbol. Zwanghafte Anhäufung von Waren und zwanghafter Kauf sogenannter Neuheiten, die von der Mode durchgesetzt werden, bedeuten aber massive Verschwendung und merkantile Entfremdung.
Eine neuartige Gesellschaft würde die Produktion auf die Befriedigung realer Bedürfnisse ausrichten, angefangen bei solchen, die man als «biblisch» bezeichnen könnte – Wasser, Nahrung, Kleidung, Wohnung –, aber auch grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, Transport, Kultur.
Echte und unechte Bedürfnisse
Wie lassen sich authentische Bedürfnisse von künstlichen, falschen oder simulierten Bedürfnissen unterscheiden? Die Werbeindustrie – die durch mentale Manipulation Einfluss auf die Bedürfnisse nimmt – ist in den modernen kapitalistischen Gesellschaften in alle Bereiche des menschlichen Lebens eingedrungen. Alles wird nach ihren Regeln gestaltet, nicht nur Nahrung und Kleidung, sondern auch so unterschiedliche Bereiche wie Sport, Kultur, Religion und Politik. Dieser Sektor trägt direkt zu auffälligen und zwanghaften Konsumgewohnheiten bei.
Werbung ist in einer kapitalistischen Marktwirtschaft unverzichtbar, in einer Gesellschaft im Übergang zum Sozialismus hätte sie keinen Platz. An ihre Stelle würde die Information über Produkte und Dienstleistungen treten, die von Verbraucherverbänden angeboten wird. Das Kriterium für die Unterscheidung eines echten Bedürfnisses von einem künstlichen Bedürfnis wäre sein Fortbestehen nach dem Wegfall der Werbung. Dabei ist klar, dass die bisherigen Konsumgewohnheiten für einige Zeit bestehen bleiben werden, weil niemand das Recht hat, den Menschen zu sagen, was sie brauchen. Die Veränderung der Konsummuster ist ein historischer Prozess und eine pädagogische Herausforderung.
Es braucht Alternativen
Bestimmte Produkte, wie z.B. der Pkw, werfen allerdings komplexere Probleme auf. Personenkraftwagen sind ein öffentliches Ärgernis. Weltweit töten oder verstümmeln sie jedes Jahr Hunderttausende Menschen. Sie verschmutzen die Luft in Großstädten und tragen erheblich zum Klimawandel bei. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des Kapitalismus befriedigt das Auto jedoch reale Bedürfnisse.
In europäischen Städten, in denen die Behörden um die Umwelt besorgt sind, zeigen nun lokale Experimente, dass es möglich ist, den Platz des privaten Autos zugunsten von Bussen und Straßenbahnen schrittweise einzuschränken. In einem Übergangsprozess zum Ökosozialismus würde der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und kostenlos sein, während die Wege für Fußgänger und Radfahrer geschützt würden. Folglich würde das private Auto eine viel geringere Rolle spielen als in der bürgerlichen Gesellschaft, in der es ein Fetisch geworden ist.
Sind Bedürfnisse unendlich?
Auf diese Vorschläge werden die Pessimisten antworten: Ja, aber die Individuen werden von unendlichen Bestrebungen und Wünschen motiviert, die kontrolliert, analysiert und wenn nötig sogar unterdrückt werden müssen. Die Demokratie könnte dann gewissen Einschränkungen unterworfen werden. Doch der Ökosozialismus basiert auf einer vernünftigen Annahme, die schon Marx vertreten hat: dem Vorrang des «Seins» vor dem «Haben» in einer nichtkapitalistischen Gesellschaft – d.h. dem Primat der freien Zeit vor dem Wunsch, unzählige Objekte zu besitzen: persönliche Leistung durch reale Aktivitäten, kulturelle, sportliche, spielerische, wissenschaftliche, erotische, künstlerische und politische.
Der Fetischcharakter der Ware fördert durch die dem kapitalistischen System eigene Ideologie und Werbung den Kaufzwang. Es gibt keinen Beweis dafür, dass dies Teil der «ewigen menschlichen Natur» ist. Ernest Mandel hat darauf hingewiesen: «Die Entwicklung von Talenten und Neigungen um ihrer selbst willen; der Schutz von Gesundheit und Leben; die Sorge um Kinder; die Entwicklung reicher sozialer Beziehungen als Voraussetzung für psychische Stabilität und Glück – all das wird zu wichtigen Motivationen, sobald die materiellen Grundbedürfnisse befriedigt sind.» (Ernest Mandel: Power and money. A Marxist theory of bureaucracy. London, New York 1992. S.206.)
Zauberwort Selbsttätigkeit
Dies bedeutet nicht, dass es, insbesondere in der Übergangszeit, keine Konflikte geben wird: zwischen den Erfordernissen des Umweltschutzes und den sozialen Bedürfnissen, zwischen ökologischen Verpflichtungen und der Notwendigkeit, insbesondere in armen Ländern grundlegende Infrastrukturen zu entwickeln, zwischen den beliebten Konsumgewohnheiten und dem Mangel an Ressourcen wird es immer wieder Konflikte geben. Eine Gesellschaft ohne soziale Klassen ist nicht eine Gesellschaft ohne Widersprüche und Konflikte, diese sind unvermeidlich. Es wird Aufgabe der demokratischen Planung sein, sie durch offene und pluralistische Diskussionen zu lösen. Eine solche partizipative Demokratie ist der einzige Weg – nicht um Fehler zu vermeiden, sondern um sie selber korrigieren zu können.
Das bedeutet nicht, dass wir nicht hier und heute versuchen müssen, konkrete und dringende Reformen anzustoßen. Wir machen uns keine Illusionen über einen «sauberen Kapitalismus», aber wir haben keine Zeit zu verlieren und müssen den Behörden erste elementare Veränderungen aufzwingen: ein allgemeines Moratorium für gentechnisch veränderte Organismen, eine drastische Reduzierung der Treibhausgasemissionen, eine strenge Regulierung der industriellen Fischerei und des Einsatzes von Pestiziden in der agroindustriellen Produktion, eine viel stärkere Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs, den schrittweisen Ersatz von Lkw durch Züge.
Diese dringenden ökosozialen Forderungen können zu einem Prozess der Radikalisierung führen, unter der Voraussetzung, dass sie nicht an die Erfordernisse der «Wettbewerbsfähigkeit» angepasst werden. Kämpfe um konkrete Fragen sind wichtig, nicht nur, weil Teilerfolge an sich nützlich sind, sondern auch, weil sie zu einem ökologischen und sozialistischen Bewusstsein beitragen. Sie fördern zudem die Aktivität und Selbstorganisation von unten – zwei entscheidende Voraussetzungen, um eine radikale, d.h. revolutionäre, Umgestaltung der Welt zu erreichen.
*Michael Löwy ist franko-brasilianischer Philosoph und Soziologe. Er hat früher als Forschungsdirektor am CNRS in Paris gearbeitet. Er ist ein führendes Mitglied vom Global Ecosocialist Network.
Quelle: Les Possibles, Nr.23, Frühling 2020. Les Possibles ist eine Zeitschrift von Attac Frankreich (https://france.attac.org/nos-publications/les-possibles/). Die Ausgabe enthält mehrere Artikel über ökologische und soziale Planung.
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