Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2021


Warum Beschäftigte im Betrieb von ­Gesundheitsschutz oft nichts wissen wollen

von Wolfgang Hien

Im letzten Mail-express berichtete die Redaktion der «Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit», wie ihr Unter­titel lautet, von ihrer internen Diskussion über die Pandemie («Zero-Konsens»).

Beim Lesen bin ich an einem Satz hängengeblieben, der sich auf Betriebserfahrungen bezieht, wonach «für viele die Arbeit der letzte Ort (ist), an dem sie sich frei bewegen können, ohne dass eine mehr oder weniger unsinnige Corona-Vorschrift befolgt werden muss».
Wahrscheinlich beschreibt dies eine in vielen Betrieben, vor allem unter Arbeiterinnen und Arbeitern verbreitete Stimmung. Mir liegen demgegenüber etliche Betriebsberichte vor, wonach Arbeiterinnen und Arbeiter sich sehr besorgt zeigen über die mangelnden Schutzmaßnahmen. Solche Stimmen sind freilich in der Minderheit, und nicht selten sind Arbeiter:innen, die auf wirksamen Schutz vor den Corona-Viren pochen, Gegenstand von Anfeindungen – sowohl seitens mancher Führungskräfte wie seitens mancher Kollegen.
Das ist eine verzwickte und in mehrerer Hinsicht geradezu typische wie zugleich tragische Situation. Typisch, weil die Abwehrhaltung eine Tradition hat, die so alt ist wie die Arbeit auf dieser Erde und immer noch zum Inventar des männlich-starken Selbstbilds gehört. Tragisch, weil die Abwehrhaltung gegen reale Risiken und Risikopolitik nicht vor den gesundheitlichen Folgen schützt, die irgendwann unweigerlich eintreten.
Das Problem ist: Solche Folgen treten oft nicht sofort, sondern zeitverzögert auf und treffen nicht jeden, sondern einige in einem Wahrscheinlichkeitsraum, also per Zufall.

Ein Feld des Klassenkampfs
Es soll nicht bestritten werden, dass die offizielle Corona-Politik auch absurde Seiten entwickelt hat. Aber dass wir uns – wenn keine Herdenimmunität vorhanden ist – vor Aerosolen möglichst effektiv schützen müssen, sollte als naturwissenschaftlich gut belegter Sachverhalt jedem denkenden Menschen klar sein. Die Corona-Politik und auch die betrieblichen Vorschriften – z.B. die Covid-19-Arbeitsschutzverordnung – haben einen obrigkeitsstaatlichen Geschmack, der zum Widerstand reizt, doch das gilt für die gesamte Arbeitsschutzpolitik.
Alle Versuche, Konzept und Konkretisierung von Schutzmaßnahmen in einem partizipativen Prozess, erfahrungsnah und unter Einbeziehung der Beschäftigten zu entwickeln, wurden von den Unternehmerverbänden, aber auch von mächtigen Betriebsratsoligarchien torpediert. Betriebliche Gesundheitszirkel, die im Ansatz so etwas hätten voranbringen können, wurden gerade immer dann, wenn sie «ans Eingemachte» gingen, d.h. an betrieblichen Strukturen rüttelten, eingestellt. Eine breite gewerkschaftliche Bewegung für einen partizipativen und effektiven Gesundheitsschutz ist ausgeblieben.
Selbstverständlich braucht betrieblich gelebter Gesundheitsschutz Zeit – Zeit, in denen die Produktion eben nicht so ohne weiteres weiterlaufen darf. Zeit, die den Profit schmälert. «Gesundheitsschutz von oben», bei laufender Produktion, ist hinderlich und erschwerend.

Erfahrungen bei Vulkan
Mich erinnert das Ganze an die Auseinandersetzung bei Vulkan in den 80er Jahren. Die Reparaturschiffe waren voller Asbest. Es gab eine Betriebsgruppe, die sich aus politisch linken und am Gesundheitsschutz orientierten Kollegen zusammensetzte: die Echolot-Gruppe. Die Belegschaft war in Sachen Asbest total gespalten. Die Hälfte der Arbeiter empfand die Asbestkampagne der Echolot-Gruppe und der Gewerbeaufsicht als Gängelei und begriff die Maßnahmen als «Freiheitsentzug».
Die Auseinandersetzungen in der Belegschaft damals waren sehr heftig. Viele Arbeiter haben sich nicht geschützt, haben auch die Absauganlagen und Ventilatoren nicht genutzt, im Ergebnis wurden viele krank und starben elend. Manche von den Asbestleugnern habe ich später, als sie schwer krank waren, interviewt. Das waren auch für mich einschneidende Erfahrungen, voller Tragik und Schrecklichkeiten.
Damals – Mitte der 80er – wurden solche Fragen auch im Milieu der Betriebslinken diskutiert. Einige sahen im «Maskenverweigern» einen Widerstandsakt; Lothar Lissner, damals Kooperationsstelle Hochschule-Gewerkschaften Hamburg, kritisierte diese Ansicht scharf und pochte auf die immerwährende Aufgabe der «Aufklärung», eine Aufgabe, die sowohl politisch wie als Mittel zum Erhalt von Leben und Gesundheit gesehen werden muss.

Der Umgang mit der Angst
Es lohnt sich, der Frage nachzugehen: Was ist Aufklärung? Was ist Aufklärung im Betrieb? Wie kommen wir zu einem wirklich mündigen Menschen in der Arbeitswelt?
Aufklärung ist nicht nur die Herausführung des Menschen aus seiner Unmündigkeit durch mehr Wissen und Bildung auf der rationalen Ebene. Aufklärung ist auch Selbstaufklärung über die eigenen inneren Schranken und Barrieren auf der emotionalen Ebene. Eine der wirkungsvollsten Schranken ist die Angstabwehr, das Nicht-wahrhaben-Wollen, Verleugnung und Verdrängung. Zugegeben: Es gibt viele neurotische Ängste. Doch es gibt auch reale Ängste, die sinnvoll sind und vor Bedrohlichem warnen. Zur Selbstaufklärung gehört es zu lernen, Neurosen «auf den Teppich» zu bringen, aber auch, die reale Angst zuzulassen.
Der Neurowissenschaftler Gerald Hüther hat schon vor Jahren ein höchst aufschlussreiches Buch geschrieben, Biologie der Angst. Hüther argumentiert, die Tatsache, dass uns Gefahren Angst und Stress machen, ist eine sinnvolle Psychodynamik, die zur Kraft werden kann, «aus unseren bisherigen Bahnen unseres Denkens, Fühlens und Handelns auszubrechen und nach neuen und geeigneten Wegen zu suchen». Er fährt fort: «Krank werden wir erst dann, wenn wir die Chancen, die uns die Angst bietet, nicht nutzen.»
Das können wir nicht allein, nicht als Einzelkämpfer:innen. Dafür brauchen wir einen sozialen Raum des menschlichen Austauschs, der gegenseitigen Unterstützung, des Miteinander-sein-Könnens. Das sind nicht selten die vertrauten betrieblichen Kolleginnen und Kollegen. Doch hier gilt es zu differenzieren und sich nicht einer Stimmung der Angstabwehr hinzugeben.

Covid-19 als Berufskrankheit
Covid-19 als arbeitsbedingte Erkrankung ist kein Pappenstiel. Leider wird die berufs- und betriebsbezogene Epidemiologie in Deutschland mit dem Datenschutzargument behindert und unterdrückt. Doch soviel wissen wir: Mindestens 7000 Menschen im erwerbsfähigen Alter (unter 65) sind zwischen Mai 2020 und April 2021 an Covid-19 gestorben; davon haben sich geschätzt die Hälfte bei der Arbeit infiziert. Wahrscheinlich ist, wenn wir an die Hunderttausenden von Saisonarbeiter:innen und Pflegearbeiter:innen aus Osteuropa denken, die Dunkelziffer erheblich. Zum Vergleich: Eine gerade erschienene und sehr penibel gemachte Studie der University of California in San Francisco zeigt, beginnend mit dem Pandemiebeginn, eine Übersterblichkeit der kalifornischen Erwerbsbevölkerung von mehr als 10000 Personen. Gehen wir davon aus, dass die Hälfte der Todesfälle arbeits- und berufsbedingte Ursachen haben, so ergibt sich für Deutschland die Zahl von mindestens 3500 an Covid-19 gestorbenen Berufserkrankten. Das ist deutlich mehr als die etwa 1600 jährlichen Asbest-Todesfälle, die die berufsgenossenschaftliche Statistik ausweist.
Berufskrankheiten sind keine Naturereignisse – sie sind menschengemacht, und es gibt Verantwortlichkeiten, die klar benannt werden können. Forderungen, den qualvoll verstorbenen Asbestopfern ein Denkmal zu setzen, ein Mahnmal, das an unterlassene Schutzmaßnahmen erinnert und die bewusste Inkaufnahme von vermeidbarer Krankheit und Tod anklagt, sind mehr als berechtigt. Ein solches Mahnmal sollte auch allen Covid-19-Opfern gewidmet werden, denn auch hier wären, bei frühzeitiger Vorsorge und Fürsorge, die meisten Fälle vermeidbar gewesen.
Um noch einmal auf Aufklärung und Selbstaufklärung zurückzukommen: Zur Aufklärung gehört es, Wissen und Denkrichtungen zu fördern, die eine bessere Orientierung in der Welt ermöglichen. Dazu gehört auch, Risikopotenziale als Wahrscheinlichkeiten verstehen zu lernen. Zur Selbstaufklärung gehört es, sich Stück für Stück ein Urteil darüber anzueignen, was für die Gesellschaft wirklich wichtig und nützlich ist und wo derzeitige Produktionsprozesse überflüssig bis schädlich sind.
Davon sind wir weit entfernt. Die Frage ist, ob derartiges noch anstrebenswert ist. Ich meine schon. Laurent Vogel, der in Brüssel für den Europäischen Gewerkschaftsbund hauptamtlich in einem kleinen Forschungsbüro tätig ist, hat die Corona-Pandemie und die hierdurch hervorgerufene Situation in den Betrieben zum Anlass genommen, noch einmal auf diese Perspektive hinzuweisen. Es handelt sich um einen Beitrag in einem vom europäischen Gewerkschaftsbund herausgegebenen, recht kämpferischen und lesenswerten Magazin für Gesundheitsschutz (Hesa-Mag, Nr.22).
Laurent schreibt: «In der realen Welt kann Arbeit nicht auf einen einzigen Raum reduziert werden, in dem Hygienevorschriften blind angewendet werden können. Dies anzuerkennen bedeutet, es Gruppen von Arbeitnehmern zu ermöglichen, die Kontrolle über die Produktionsbedingungen zu übernehmen, auf ihre Erfahrungen zurückzugreifen und die Arbeit in all ihren Aspekten neu zu gestalten, wobei sowohl die gesundheitlichen Erfordernisse als auch der tatsächliche Nutzen, den ihre Arbeit für die Gesellschaft darstellt, berücksichtigt werden.»

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