Der Wikileaks-Gründer Julian Assange soll vernichtet werden – zu diesem Ergebnis kommt der UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer
von Albrecht Kieser
Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung. München: Piper, 2021. 336 S., 22 Euro
In das Komplott sind mehrere westliche Regierungen, das Justizwesen mehrerer demokratischer Länder und die Mehrzahl der «freien Medien» in diesen Ländern verwickelt – so lautet der Verschwörungsvorwurf, den Nils Melzer in seinem Buch, Der Fall Julian Assange, minutiös begründet.
Nils Melzer ist seit 2016 UNO-Sonderberichterstatter für Folter. Als Professor für internationales Recht lehrt er in Genf und in Glasgow. Hätte er sich 2018 zum Fall Assange äußern müssen, hätte Melzer nur müde abgewunken. Ein «zwielichtiger Hacker mit Lederjacke und weißen Haaren, der sich wegen Vergewaltigungsvorwürfen irgendwo in einer Botschaft versteckte» – so sein damaliges Urteil, von dem er uns selbstkritisch erzählt. Im Dezember 2018 erreichte ihn ein Hilfeersuchen der Anwälte von Assange. Melzer klickte es weg. Zu diesem Zeitpunkt saß der «zwielichtige Hacker» schon sechs Jahre lang aus Angst vor einer Auslieferung in die USA bzw. Schweden in der ecuadorianischen Botschaft in London fest – und nichts bewegte sich in seinem Fall.
Wenn Nils Melzer auf die Anfänge seines Engagements zurückblickt, kann er nicht umhin, die «schlagende Ironie» festzustellen: «Da saß ich also und schrieb an einem Bericht über den Zusammenhang zwischen Korruption und Folter und bemerkte nicht einmal, dass das Interventionsgesuch von Assanges Anwälten mir geradezu ein Paradebeispiel für mein Thema für Augen führte.»
Drehbuch aus den USA
Dass Assange und seine Anwälte völlig zu Recht befürchten mussten, die USA würden ihn «vernichten», wenn sie seiner habhaft würden, begriff Melzer im Frühjahr 2019. In einer «multilateral koordinierten Aktion Ecuadors, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten» wurde der Wikileaks-Gründer, dessen Veröffentlichungen seit Anfang der 2010er Jahre zahlreiche Kriegsverbrechen der USA im Irak- und Afghanistankrieg ans Licht holten, am 11.April aus der ecuadorianischen Botschaft in ein britisches Hochsicherheitsgefängnis überführt – man könnte auch sagen: entführt. Nils Melzer, der zu diesem Zeitpunkt erste kritische Anfragen an die beteiligten Regierungen gestellt hatte, sah sich getäuscht – und das ließ bei ihm «alle Alarmglocken schrillen».
Nun beginnt der äußerst spannend zu lesende Bericht der zwei Jahre währenden Interventionen eines der höchsten UN-Diplomaten, völkerrechtlich legitimiert und in seinem Auftrag mit maximalen Rechten ausgestattet, die ihm Zugang zu allen, auch geheimen Unterlagen zusichern. Nur bekam er sie nicht. Melzer wurde ausschließlich behindert: zuallererst von der Justiz Schwedens, die die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange konstruiert hatte und gegen jede kritische Durchleuchtung abschirmte. Melzer recheriert trotzdem und stellt fest, dass die Vorwürfe nicht justiziabel sind, lange bevor ein schwedisches Gericht im November 2019 die Anklage aus Mangel an Beweisen einstellt. Wozu Melzer resümiert: «Doch die Aura des Vergewaltigers blieb an ihm haften und verhindert auch heute noch, dass sein Fall als das gesehen wird, was er ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung.»
Einer Verfolgung, die genauso von der britischen Regierung betrieben wird, weil sie den Gefangenen mit Mitteln der weißen Folter vernichten will und die Melzer den Zugang zu Assange immer wieder erschwert. Vernichten? Ja. Der Uno-Sonderberichterstatter für Folter nennt als Ziel dieser Behandlung: den Tod.
Das Drehbuch dafür stammt aus den USA. Melzer zitiert aus einer internen Mailkorrespondenz der Geheimdienste die Stoßrichtung der Kampagne gegen Assange, die im Dezember 2010 festgelegt wurde: «Legt nach. Treibt ihn von Land zu Land, bedrängt von allerlei Anklagen für die nächsten 25 Jahre. Nehmt alles, was er, seine Familie und alle Personen aus dem Wikileaks-Umfeld besitzen.» Sollte man seiner habhaft werden, war eine Anklage in den USA vorbereitet, um ihn für über hundert Jahre hinter Gittern zu bringen. Sollte das nicht gelingen, soll er im britischen Hochsicherheitsgefängnis vernichtet werden.
Diese lautlose Art der Vernichtung ist nicht beendet, stellt Melzer am Ende seines Buches fest, die Gerichtsverfahren gegen Assange sind nicht beendet, die Auslieferungsersuchen der USA sind nicht beendet, das internationale mediale Beschönigen und Beschweigen der staatlichen Jagd auf einen kritischen Journalisten ist nicht beendet.
Melzer schreibt allen ins Stammbuch, die weiterhin wegschauen bei diesem Präzedenzfall «Staatsmacht ./. das freie Wort»: «Unsere Regierungen fühlen sich bedroht von Chelsea Manning, Edward Snowden und Julian Assange, denn sie sind Whistleblower, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, die uns handfeste Beweise geliefert haben für den Missbrauch, die Korruption und die Kriegsverbrechen der Mächtigen. Sie gefährden die Privilegien einer Staatsmacht, die außer Kontrolle geraten ist.»
Ein erschütterndes, von der ersten bis zur letzten Zeile spannendes und enthüllendes Werk. Unbedingt lesenswert!
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