Gegen Femizide genügt Solidarität nicht – es braucht Widerstand
von Gisela Notz*
Die Zahl der Morde an Frauen steigt seit 2015 kontinuierlich – sie sind einer der Gradmesser für die zunehmende Gewalttätigkeit in unserer Gesellschaft.
Am 5.März 2020 bekam ich ein Mail: «Hiermit laden wir Organisierende euch alle herzlich zu dem Trauermarsch zum Tode von Homa und Tajala ein … Bitte meldet euch bei mir, wenn ihr morgen mitkommt. Solidarische Grüße XYZ.» Was war geschehen?
Am Vorabend erreichte eine der Frauen der Gruppe, in der auch ich mitarbeitete und in der auch Homa aktiv war, ein Hilferuf von einer Mitfrau, die in einem Berliner Bezirk geflüchtete Frauen, vor allem aus Afghanistan, organisierte. Eine dieser Frauen und ihre neunjährige Tochter war an diesem Tag in ihrer Wohnung getötet worden. Die Frauen organisierten eine Demonstration. Schwarz gekleidet, marschierten sie gemeinsam von ihrem Treffpunkt bis zum Haus, in dem die beiden Ermordeten gewohnt hatten. Sie wollten mit Kerzen und Blumen auch zeigen, dass die Migrant:innen in Deutschland nicht isoliert sind! Zudem forderten sie eine lückenlose Aufklärung der Morde. Insbesondere sollte hinsichtlich eines rassistischen oder frauenfeindlichen Motivs ermittelt werden.
Die Femizide erschütterten uns. Als die Frauen ein Jahr später unter dem Motto «Wir werden euch nicht vergessen. Wir werden ihnen nicht vergeben», erneut demonstrierten, war der Fall noch nicht aufgeklärt.
Was bedeutet Femizid?
Als Femizid bezeichnet man die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Es geht dabei um Macht und Unterordnung, Dominanz- und Besitzansprüche in Geschlechterverhältnissen, die durch die herrschende familistische Ideologie mit tradierten Rollenmustern verstärkt werden. Femizide sind ein weltweites Problem, das auf tradierten Geschlechter- und Familienbildern und patriarchalischen Machtstrukturen beruht. Als zusätzliches Problem stellen zunehmend rechtsextremistische, religiös-fundamentalistische, antifeministische und rassistische Bewegungen eine Gefahr dar.
Expert:innen verweisen darauf, dass es sich meist um gut vorbereitete und nicht um Affekthandlungen handelt. Männer morden «ihre» Frauen, weil sie glauben, das Recht dazu zu haben. Sie morden vor oder nach Trennungen, weil die Frauen schwanger sind, weil diese eigene berufliche Erfolge haben oder eigene Wege gehen wollen.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Frauen generell ein deutlich höheres Risiko tragen, durch einen Intimpartner getötet zu werden, als Männer. Die Statistiken des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) von 2019 zeigen, dass weltweit täglich 137 Frauen und Mädchen von einem Mitglied ihrer eigenen Familie oder ihrem (Ex-)Partner ermordet werden, weil sie Frauen sind. Pro Jahr sind das 50000 Frauenmorde. Die Dunkelziffer ist bedeutend höher, weil systematische Datenerhebungen fehlen, weil es keine allgemeingültige Definition des Begriffs Femizid gibt und viele Fälle unaufgeklärt bleiben.
Seit 2015 – seit Femizide in den bundesdeutschen Polizeistatistiken jährlich aufgelistet werden – steigen die Zahlen kontinuierlich an. Die Dunkelziffer ist auch nach Aussagen des Bundeskriminalamts erheblich. Insgesamt sind von den «Gewaltopfern in Beziehungen» vier Fünftel Frauen und ein Fünftel Männer. Laut der aktuellen Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) für das Jahr 2019 lag die Zahl der Fälle partnerschaftlicher Gewalt bei 141792. Davon waren Frauen zu mehr als 80 Prozent betroffen, nämlich in 114903 Fällen. 117 Frauen starben 2019 durch Partner oder Ex-Partner. Das heißt, dass fast an jedem dritten Tag eine Frau durch die Tat ihres Partners oder Ex-Partners ermordet wurde. Hinzu kommen etwa 600 versuchte Tötungen von Frauen und Mädchen.
Nicht nur seit Corona
Jede vierte Frau wird mindestens einmal im Leben Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Seit Beginn der Maßnahmen zur Beschränkung der Ausbreitung von Covid-19 warnen Beratungsstellen, Frauenhäuser und Frauenorganisationen vor den Auswirkungen der Isolation und fehlenden Kommunikations- und Schutzmöglichkeiten für Frauen und Kinder im häuslichen Gewaltraum.
Tatsächlich hat die Corona-Krise das Gewaltproblem noch einmal verschärft. Der Zwang, in der Familie zu bleiben, stellt die Frauen vor enorme Herausforderungen, Homeoffice bedeutet Stress, und die Betreuungs- und Kommunikationsstrukturen sind geschlossen, das trifft besonders Familien in belasteten Lebenslagen.
Allerdings hat die Gewalt nicht erst seit dem Auftreten von Corona zugenommen. Während der Krise kochten Probleme hoch, die vorher schon da waren. Zudem zeigen lange vor der Krise erstellte Studien keine schicht- und klassenspezifischen Unterschiede. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schlug 2014 in einer Studie vor, mit stereotypisierten Schablonen zu brechen und auch die hohen Anteile von höher gebildeten und beruflich gut situierten Tätern von (schwerer) häuslicher Gewalt zu problematisieren.
Sieht man sich die neuesten Zahlen an, so töteten in Deutschland im ersten Halbjahr 2021 während des Corona-Lockdowns (Stand 11.Juni 2021) Ehemänner, (Ex-)Partner, Väter, Söhne, Brüder 72 Frauen und 12 Mädchen. Sie verletzten im gleichen Zeitraum 98 weitere Frauen und zwei Kinder lebensgefährlich und bedrohten zwei Frauen und vier Kinder. Eine Frau wird noch vermisst, die Suche dauert an.
Die Rechtsprechung banalisiert
DaMigra, der Dachverband der Migrantinnenorganisationen, verweist darauf, dass Femizide häufig als «Familiendrama», «Ehrenmord», «Trennungstötung», «Eifersuchtsdrama» usw. heruntergespielt und verharmlost werden. Das gilt auch für die Berichte in den Medien. Selbst in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelten bei «Trennungstötungen» oft mildernde Umstände, wenn «die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt sieht, was er eigentlich nicht verlieren will» (BGH vom 29.10.2008).
Damit gibt man den Opfern die Mitschuld an ihrer Ermordung, während die Besitzansprüche der Täter an «ihren» Frauen zu ihren Gunsten ausgelegt werden und strafmildernd wirken. Darin spiegelt sich Ignoranz und Abwertung von Frauen und ihren Rechten wider. Einen Mann zu verlassen oder abzuweisen kann für die Frau tödlich enden.
Der Deutsche Frauenring forderte bereits am 25.November 2020 anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen die Verstärkung der Präventionsmaßnahmen, Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Der aktive Schutz von Frauen und ihren Kindern in Gewaltsituationen müsse durch Bereitstellung von ausreichenden Schutzräumen in Frauenhäusern und Kapazitäten in Beratungsstellen ausgeweitet und deren Finanzierung gesichert werden. Außerdem tritt er für verpflichtende Schulungen von Polizei, Staatsanwaltschaften und Richter:innen zu geschlechtsspezifischer Gewalt ein und fordert die konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention, die die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, gegen alle Formen von Gewalt, insbesondere geschlechtsbezogene Gewalt, vorzugehen.
Für Deutschland fordert der Frauenring gesetzgeberische Maßnahmen zur Strafverschärfung bei Femizid. Auch zahlreiche Parteien, Gewerkschaften und Sozialträger fordern alljährlich zum Tag gegen Gewalt an Frauen bessere Ausstattung und mehr Prävention. Allzu oft bleibt es jedoch bei reiner Symbolpolitik, zumal es an zukunftsfesten Finanzierungsplänen mangelt.
Dass es in unserer zivilisierten Gesellschaft für Frauen ganz offensichtlich keinen unsichereren Ort gibt als die Familie und dass der grundgesetzlich zugesicherte staatliche Schutz von Ehe und Familie de facto keineswegs den Schutz der (Ehe-)Frauen und Kinder vor männlicher Gewalt einbezieht, ist der eigentliche Skandal.
*Die Autorin ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin; sie lebt und arbeitet in Berlin.
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