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Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2021

150 Jahre nach Einführung des Klassenparagrafen werden Frauen wegen Abtreibung immer noch vor Gericht gestellt
von Manfred Dietenberger

Die Wochenzeitung Stern (die mit den Pseudo-Hitler-Tagebüchern) erinnerte Anfang Juni an die wohl spektakulärste Titelstory in ihrer Geschichte. Ähnlich aufgemacht wie vor 50 Jahren, prangten Fotos prominenter und weniger prominenter Frauen auf der Titelseite. Die Schlagzeile damals wie heute war: «Wir haben abgetrieben!»

In der Story bezichtigten sich damals 374 Frauen aus freien Stücken – unter ihnen Schauspielerinnen wie Senta Berger und Romy Schneider, aber auch Hausfrauen, Arbeiterinnen, Sekretärinnen und Studentinnen: «Ich habe abgetrieben» und bekannten: «Ich bin gegen den §218 und für Wunschkinder». Sie verbanden ihr mutiges Statement mit der Forderung auf das Recht auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch und das Ende der Kriminalisierung der Abtreibung.
Heute, fünf Jahrzehnte später, sind Abtreibungen noch immer verboten. Der «Klassenparagraf» «feiert» heute sein 150jähriges Bestehen, seit 1871 bedroht er Schwangere, anfänglich mit fünf Jahren Zuchthaus, wenn sie vorsätzlich abtreiben.
Es gab von Anfang an auch Widerspruch. Die Alltagswirklichkeit forderte ihn besonders in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg geradezu heraus. 1930 beispielsweise gründete sich unter Federführung des Berliner Gynäkologen Heinrich Dehmel das «Komitee für Selbstbezichtigung», das mit den provokanten Slogans «Ich habe abgetrieben» und «Ich habe einer Frau geholfen» bei prominenten Ärzten und bekannten Frauen Unterschriften sammelte.
Mit Beginn des Jahres 1931 entwickelte sich der Protest zu einer Massenbewegung. Unmittelbarer Anlass war die Veröffentlichung der Enzyklika «Casti Conubii» von Papst Pius XI. über die christliche Ehe, in der es hieß: «Jeder Gebrauch der Ehe, bei dessen Vollzug der Akt durch die Willkür des Menschen seiner natürlichen Kraft zur Weckung neuen Lebens beraubt wird, verstößt gegen das Gesetz Gottes und der Natur, und die solches tun, beflecken ihr Gewissen mit schwerer Schuld.» Die Stuttgarter Ärzte Else Kienle und Friedrich Wolf wurden unter dem Verdacht der gewerbsmäßigen Abtreibung verhaftet.

Widerstand in der Weimarer Republik
In besonderem Maße kamen Frauen aus der Arbeiterklasse mit dem Gesetz in Konflikt. Es fehlte ihnen an Verhütungsmittel, und ihre prekären und beengten Lebensverhältnisse zwangen Frauen zur Abtreibung unter höchst gefährlichen Umständen, die häufig tödlich endeten. Diese Konfliktsituation bildete die Grundlage für das 1929 uraufgeführte Theaterstück und den 1930 erstmals in Berlin gezeigten, gleichnamigen Films ­Cyankali.
Ihr Autor war Friedrich Wolf, ein in Stuttgart lebender Arzt und kämpferische Befürworter der Geburtenregelung. Gemeinsam mit der Stuttgarter Ärztin Else Kienle kämpfte er für das medizinisch betreute Recht auf Abtreibung. Ihre humanistische Haltung zum Schwangerschaftsabbruch formulierte die Ärztin einmal so: «Ich bin genau wie Friedrich Wolf und wie jeder fühlende Mensch Gegner der sogenannten Abtreibung, hingegen Anhänger der Geburtenregelung.»
Ihr von Solidarität getriebener, politisch-praktischer Kampf für in Not geratene Frauen brachte Klerikale und Nazis in Rage. Ohne Begründung wurden Wolf und Kienle am 19.Februar 1931 verhaftet. Keine bürgerliche Partei protestierte. Nur die KPD trat zu der Zeit im Reichstag für eine vorbehaltlose Abschaffung des §218 ein. «Die Proletarierin ist keine Gebärmaschine!», mahnte dort zum Beispiel der schwäbische KPD-Abgeordnete Edwin Hörnle.
Die KPD und ihr nahestehende Organisationen mobilisierten sofort Widerstand gegen die Verhaftung der beiden fortschrittlichen Ärzte. Schon am 26.Februar gingen mehrere tausend Menschen – plus ein Polizeispitzel – durch Stuttgarts Straßen und forderten lautstark die Freilassung der beiden Volksärzte. Der Spitzel berichtete danach von «kulturbolschewistischen Gedankengängen», die in den Redebeiträgen auf der Demonstration zu hören gewesen seien.
Die Solidarität der Massen beeindruckte die Herrschenden. Wolf kam schnell gegen Kaution wieder frei. Seine 31jährige Mitkämpferin Else Kienle kam nicht so schnell aus dem Gefängnis. Ihre Freilassung erzwang sie Ende März mit einem für sie lebensgefährlichen Hungerstreik.
Als beide wieder frei Luft atmen konnten, tourten sie durch die ganze Republik und sprachen auf Kundgebungen in jeder größeren Stadt, aber auch in der Provinz (z.B. Stuttgart, Berlin und Ravensburg in Oberschwaben) vor hunderten, ja zum Teil tausenden Teilnehmenden. Sie zogen mit dem Thema auch in die Schweiz, und im Mai 1931 bereisten sie sogar die Sowjetunion, wo – einmalig in Europa – Schwangerschaftsunterbrechungen legal und medizinisch betreut durchgeführt wurden.
Der aktuelle Fall der Gießener Ärztin Kristina Hänel, die sich 2017 wegen Werbeverbots für Schwangerschaftsunterbrechungen gemäß §219 vor Gericht verantworten musste, zeigt, dass Friedrich Wolfs Hoffnung: «das alles wird vorübergehen, nach 20 Jahren wird man an den §218 denken, wie an einen unmöglichen Traum» bis heute uneingelöst bleibt. Hänel wurde zweimal vom Landgericht Gießen zu einer Geldstrafe verurteilt; gegen das zweite Urteil hat sie Verfassungsbeschwerde eingelegt.

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