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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2021

Die vierte Parlamentswahl innerhalb von zwei Jahren hat Netanyahu endlich aus dem Amt gejagt
von Shir Hever

Das israelische Wahlsystem ist so aufgebaut, dass es für jede politische Partei schwierig ist, eine einfache Mehrheit zu erreichen. Die Existenz kleiner Parteien macht mehr als eine Mehrheitskoalition möglich, und so findet regelmäßig ein erbitterter Bieterkrieg statt, in dem Gefälligkeiten versprochen werden.

Traditionell sind die jüdisch-religiösen Parteien die Parteien der «Mitte», sie können sowohl mit dem Labour-geführten Mitte-Links-Flügel oder mit dem Likud-geführten rechten Flügel koalieren. Ihre Schlüsselposition hat im politischen Establishment zu Ressentiments und Hass gegen sie geführt, sie wurden als politische Prostituierte bezeichnete, als Parasiten, die von finanziellen Vorteilen profitieren, die sie im Austausch für die Unterstützung des Meistbietenden erhalten.
Jahrzehntelang haben die religiösen Parteien gewarnt, dass diese Art von Hassrede antisemitisch ist. Bei den letzten Wahlen haben sie beschlossen, im voraus anzukündigen, dass sie nur eine Koalition mit Netan­yahu bilden würden, unabhängig davon, was die anderen Parteien ihnen anbieten. Eine der vier religiösen Parteien brach ihr Versprechen und verschaffte dem «Anti-Netanyahu»-Lager eine Mehrheit von einem Sitz in der Knesset, genug, um eine Mehrheitsregierung zu bilden und Netanyahus 12jährige Amtszeit als Ministerpräsident zu beenden.
Israels neuer Premierminister Naftali Bennet ist der Vorsitzende jener religiösen Partei, namens Jamina («Richtung rechts»). Ein Mitglied hat seine Fraktion verlassen, sodass er nur noch sechs Sitze hat, was Jamina zu einer der kleinsten Parteien in der Knesset macht. Trotzdem wurde Bennet das höchste Amt angeboten – ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte.
Es wurde eine fragile und unhandliche Koalition mit acht Parteien gebildet. Sie reicht von der religiösen Jamina, die säkulare Jesh Atid («Es gibt eine Zukunft»), die rechtsextreme «Israel Unser Haus» über die linke Meretz, die neoliberale Neue Hoffnung, die sozialdemokratische Arbeitspartei und die Partei der Generäle «Blau und Weiß» bis zur arabisch-islamischen Partei Raam.
Die neue Koalition steht auf acht Beinen, sie ähnelt einer Spinne. Ihr Architekt Yair Lapid (Vorsitzender von Jesh Atid) hat alle Mitglieder aufgefordert, die Behandlung kontroverser Themen zu vertagen, bis Netanyahu aus dem Weg ist. Jedes Koalitionsmitglied musste ein Netz von Lügen weben, um seine Anwesenheit in einer Koalition mit gegnerischen Parteien zu rechtfertigen. Wer glaubte, eine solche Koalition sei unmöglich, wurde für spinnert gehalten.
Viele Mitglieder dieser Koalition sind ehemalige Mitarbeiter und Anhänger von Netanyahu, darunter auch Naftali Bennet. Israelische Zeitungen beschreiben das politische Manöver, Netanyahu, die Vaterfigur der israelischen Politik, abzusetzen, als ödipal.
Der erste Test für die Regierung kam am 15.Juni, nur zwei Tage nach der Regierungsbildung, als der rassistische Flaggenmarsch durch die Altstadt von Jerusalem zog. Der Marsch wurde von Netanyahu als Provokation geplant, um einen bewaffneten Konflikt und eine politische Krise zu entfachen, die ihn zurück an die Macht bringen sollten. Der Marsch bedrohte den Waffenstillstand mit der Hamas, aber die Hamas reagierte nicht. Junge Palästinenser in Gaza ließen einen Ballon in Richtung Israel los, um Feuer zu entfachen, und die israelische Luftwaffe antwortete mit Bombardierungen, was den Waffenstillstand verletzte – aber ohne jemanden zu treffen.
Das beweist, dass die neue Koalition nicht so abenteuerlich und tollkühn agiert wie die Netanyahu-Regierung. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie vielleicht länger hält als die drei von ihm geführten, vorherigen Regierungen.

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