Psychische Belastungen sind seit jeher Ergebnis struktureller Gewalt am Arbeitsplatz
von Violetta Bock
Es ist bekannt, wie krank machend die moderne Arbeitswelt ist, und dennoch wird wenig bis gar nichts dagegen unternommen. Vor zehn Jahren erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den beruflichen Stress zu «einer der größten Gefahren des 21.Jahrhunderts». Erst vor kurzem erhielt das Thema neue Aufmerksamkeit.
Unter dem Hashtag #ichbinHanna twitterten in den letzten Wochen Wissenschaftler:innen über die unsicheren Verhältnisse an Hochschulen aufgrund von mangelnden Perspektiven, Kettenverträgen und tausenden unbezahlten Überstunden. Befristungen machen krank. Ende Juni stand das Thema sogar im Bundestag auf der Tagesordnung. Besonders betroffen sind Beschäftigte im Dienstleistungsbereich. Ganz oben in der Statistik finden sich Dialogmarketing wie etwa im Call Center, in der Altenpflege und im Verkauf, und wie so oft sind Frauen häufiger betroffen als Männer.
Wenn Arbeit krank macht
Es sind Bereiche mit schlechten Arbeitsbedingungen. Und weil es die herrschenden Verhältnisse betrifft, ist es gewollte, durchstrukturierte Gewalt. Kennzeichnend für diese moderne Arbeitswelt sind Flexibilisierung, berufliche Unsicherheit, die Entgrenzung zwischen Beruf und Freizeit und die stetige Beschleunigung und «Optimierung» der Arbeitsprozesse. Die Digitalisierung schiebt noch weiter an: Eben noch zu Hause eine Mail lesen, riesige Datenmengen verschicken mit dem Anspruch, dass diese von allen gelesen werden. Und alles immer «eigenverantwortlich».
Nicht nur im sozialen Bereich kann hier der Anspruch, seine Arbeit gut zu machen, nicht eingelöst werden – zum Schaden für Körper und Geist. Heute selbstverständliche Managementmethoden wie indirekte Steuerung geben den Druck, unrealistische Ziele zu erreichen, an den Einzelnen weiter, während gleichzeitig der Ton immer freundlicher wird. Bemerkbar macht sich dies auf ganz unterschiedliche Weise: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rückenschmerzen, Herzinfarkte, Panikattacken und Angststörungen, Depressionen, Suchtkrankheiten und Bluthochdruck.
Ich erinnere mich gut an die Geschichte eines Bekannten von seiner Reha. Der Therapeut suchte gerade nach den Gründen der Krankheit in der Kindheit. Bei dem Verweis auf die stressige Situation bei der Arbeit stellte er die Frage: «Warum sitzen dann gerade Sie hier und nicht ihre Kollegen?» Ein Blick in die Runde der Gruppentherapie. Hier saßen zu zwei Dritteln Arbeiter:innen, gerade auch aus Großbetrieben, und die Antwort war recht simpel: «Na, die anderen zeigen sich im Frühstücksraum gegenseitig ihre Medikamente gegen Bluthochdruck.»
Die Folgen
Arbeitsdruck und Arbeitsverdichtung hinterlassen ihre Spuren. In den Nullerjahren fiel auf, dass die Arbeitsausfalltage aufgrund von psychischer Belastung eine nennenswerte Zahl ausmachten – mit betriebs- und volkswirtschaftlichen Auswirkungen.
2008 waren laut Bundespsychotherapeutenkammer 11 Prozent der Fehltage auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Zwischen 2008 und 2016 stieg die Zahl der Ausfalltage durch Krankschreibungen durchschnittlich um mehr als 60 Prozent, wegen psychischer und Verhaltensstörungen sogar um fast 125 Prozent. Nach Muskel-Skelett-Erkrankungen zählen laut Statistischem Bundesamt psychische Erkrankungen mit 17,1 Prozent inzwischen als zweithäufigste Ursache für Krankmeldungen.
Manche der Betroffenen sehen sich dann in der Reha wieder. 2019 gab es fast zwei Millionen Reha-Patient:innen. 1,05 Millionen Behandlungen wurden in der gesetzlichen Rentenversicherung registriert, darunter 851000 stationäre; 871000 im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, darunter 658445 stationäre. Zum Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung gibt es keine Aussagen, weil Akutversorgung und Rehabilitation nicht getrennt erfasst werden (so die Antwort auf eine Anfrage der FDP im Oktober 2020).
Die Ursachen für Rehaaufenthalte sind natürlich vielfältig, Vorsorgebehandlungen für Väter und Mütter sind darin ebenso enthalten. Man kann jedoch davon ausgehen, dass ein relevanter Teil auf die Behandlung zur Verarbeitung psychischer Belastung zurückzuführen ist. Ein paar Wochen ambulante oder stationäre Reha scheinen inzwischen fast zum Berufsleben dazu zu gehören. Das Ziel: wieder fit werden für den Alltag und das Arbeitsleben, Dinge verarbeiten, zu denen man im Alltag nicht kommt, seelische Schäden auskurieren.
Eigenverantwortung bis zur Selbstverleugnung
Für die Unternehmen stellt das kein Problem dar. Schließlich entstehen ihnen ab der sechsten Krankheitswoche keine Kosten mehr. Im Gegenteil, es zahlt sich aus, das Risiko bewusst in Kauf zu nehmen. Mit dem Einzug der indirekten Steuerung wird Burn-out mehr als billigend in Kauf genommen.
«Der Burn-out ist im System insofern angelegt, als ja die Faktoren, die den Leistungsdruck steuern, im Prinzip immer mit einer Grenzenlosigkeit versehen sind», beschreibt der Arbeitsphilosoph Klaus Peters die Wirkung von indirekter Steuerung, bei der abhängig Beschäftigte in die Rolle von Selbständigen hereingedrängt werden. Anstelle einer klaren Befehlsstruktur von Chef zu Arbeiter wird in flache Teamstrukturen delegiert.
Das Schlagwort heißt Eigenverantwortung, es soll Autonomie verkaufen, meint letztendlich aber nichts anderes, als dass man ein Ziel vorgegeben bekommt, und dann selber zusehen soll, wie man es erreicht. Das Ganze wird dann noch in nette Worte verpackt, ein Wir-Gefühl beschworen, und manche Unternehmen schämen sich auch nicht, von jedem «unternehmerisches Denken» zu verlangen.
Kein Wunder, dass dies psychische Belastungen erzeugt, letzten Endes verlangt es Selbstverleugnung, und der Körper muss sehen, wie er diesen Widerspruch auflöst. Spricht man das auf der Arbeit an, gilt man schnell als Querulant. Kritisiert wird dann oft nicht das Gesagte, sondern die Form, der Ton, die Wortwahl. Früher war der Ton rauer, aber wenn es darauf ankam, standen die Kolleg:innen zusammen, da wurde ein Konflikt gegenüber einem Vorgesetzten auch mal gewalttätig gelöst, heute wird sowas allzuoft in Teamsitzungen abgefangen.
Indirekte Steuerung leugnet den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, lenkt von ihm ab. Der Widerspruch bleibt natürlich, schwelt weiter, in seltenen Fällen kommt es dadurch zum Gewaltausbruch nach außen, in der Mehrzahl richtet sich die Gewalt nach innen mit dem Ergebnis der Depression und psychischer Belastung.
Als zynische Antwort darauf wird «Resilienz» gelehrt, die emotionale Stärkung und das Antrainieren von Belastbarkeit. Stefanie Graefe, Soziologin an der Uni Jena, warnt, dass in der umfassenden Krisensituation (ökonomisch, ökologisch, pandemisch) Resilienz lediglich ein besseres Durchkommen verspricht und letztendlich die Kunst der Anpassung meint statt die Kritik und Veränderung der Verhältnisse.
Der Umgang mit unseren Körpern
Daneben gibt es auch die strukturelle Gewalt am Arbeitsplatz, die sich nicht psychisch, sondern direkt körperlich auswirkt. In einem Brief an die Sozialämter dieser Welt anlässlich einer Kundgebung haben wir ausgehend von den Erfahrungen der Stadtteilarbeit im letzten Jahr geschrieben: «In letzter Zeit sind uns viele Menschen, oft Frauen, begegnet mit einer ähnlichen Geschichte. Sie haben ewig lang in Minijobs gearbeitet, die sich finanziell manchmal nur lohnen, weil sie vor der Sanktion bewahren. Sie haben sich ihre Körper kaputt gearbeitet, in der Pflege, in der Reinigung, als Kraftfahrer. Aber nicht das Unternehmen wird bestraft, wie es mit den Körpern der Angestellten umgeht, sondern der überlastete Rücken wird gekündigt und muss sich nun vor dem Amt bücken, alles offenlegen.»
Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sind die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit, die in manchen Fällen bis zur Erwerbsunfähigkeit reicht. 52 Prozent der Gerüstbauer, 51 Prozent der Dachdecker und 50 Prozent der Bergleute haben laut Daten von 2007–2009 nicht die reguläre Altersrente angetreten, sondern beziehen Erwerbsminderungsrenten. Gewerkschaftlicher Widerstand ist dafür die beste Therapie und zugleich Selbstverteidigung.
1 Kommentar
Sehr guter Artikel, finde ich.
Leider sind die Fallzahlen für Krankheiten auf Grund psychischer Beanspruchungen wohl noch häufiger, da nicht alle Betroffene an Burnout, Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen leiden. Oft gehen solche Fehlbelastungen auch auf Herz, Kreislauf, Rücken, Verdauungsorgane oder andere. Wie auch immer: Gute Arbeitsbedingungen sind extrem wichtig.
Mit solidarischen Grüßen!
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