Hinter der formal-demokratischen Fassade versteckt sich ein Klassenkrieg
von Gerhard Klas
Wo keine politischen Alternativen greifbar sind, entlädt sich die Wut in Aufständen. Für Linke eine Herausforderung.
Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch die politische Geschichte der Menschheit und hat Gesellschaften erschüttert und verändert. Kriege, Terrorregime und Revolutionen sind dabei nur der sichtbarste Teil.
Aber es gibt auch die «strukturelle» Gewalt, die im bürgerlichen Staat kaum hinterfragt und in der Regel nicht sanktioniert wird, die zwar unmoralisch ist, aber in einem formal legalen Rahmen stattfindet. In seinem Lied «Die Söhne Stammheims» über das Ende der Roten Armee Fraktion stellt etwa der Hamburger Musiker Jan Delay den Zusammenhang zwischen revolutionärer und struktureller Gewalt her: «Endlich sind die Terroristen weg und es herrscht Ordnung, Ruhe und Frieden … Endlich haben sie keine Angst mehr, verkaufen fröhlich ihre Panzer, jeden Tag sieben Kinder abschieben, und dann zum Essen mit dem Kanzler.»
Der populäre Rapper veröffentlichte dieses Lied 2001 und bekundete in Interviews seine Sympathie für den Schwarzen Block, unterstützte die Proteste zum G8-Gipfel in Heiligendamm und sieht Sachbeschädigung als zulässiges Mittel der Agitation, solange sie sich nicht gegen Personen richtet.
Zur strukturellen Gewalt gehört neben formal legalen Abschiebungen und Waffenexporten, nicht selten mit unmittelbar tödlichen Auswirkungen, auch die gewöhnliche Ausbeutung von Mensch und Natur. Dabei gibt es im Kapitalismus, wie schon Karl Marx betonte, keine Ausbeutung ohne eine Tendenz zur Überausbeutung. Um im Kapitalismus bestehen zu können, muss Mehrwert produziert werden. Im Zweifel geht es dann nicht einmal mehr um den Erhalt der Arbeitskraft, sondern Leben und Gesundheit wird durch unmenschliche Arbeitsbedingungen aufs Spiel gesetzt.
Besonders deutlich ist das in Ländern, wo es ein scheinbar unerschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften gibt, etwa in Indien. Aber auch hierzulande ist der gesundheitliche und soziale Preis hoch, den etwa Geflüchtete auf dem informellen Arbeitsmarkt zahlen müssen, dort, wo es weder Mindestlohn noch Sozialversicherung, Höchstarbeitszeit oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz gibt.
Die ökonomisch-strukturelle Gewalt zeigt sich auch bei den aktuellen Plänen der Bundesregierung, das Renteneintrittsalter weiter zu erhöhen. Und nicht nur in der Arbeitswelt ist sie greifbar, auch bei unbezahlbaren Mieten, die zu brachialen Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit führen und eine Gentrifizierung zur Folge haben – sprich die Vertreibung weniger wohlhabender und prekärer Bewohner:innen, die bis zu zehn Jahre früher sterben müssen als ihre betuchteren Nachbarn.
Den Gipfel der strukturellen Gewalt des Kapitalismus stellt heute ohne Frage die ökologische Zerstörung dar, die selbst einen Ökozid billigend in Kauf nimmt, d.h. die Bedingungen für menschliches Leben auf diesem Planeten untergräbt (S.14).
Bürgerliche Demokratie ist eine hohle Phrase
Die Erfahrung struktureller und repressiver Gewalt macht wütend – dagegen revoltieren Menschen. Slave Cubela spricht in seinem Artikel (S.14/15) von «eruptiver Gewalt» – ungeachtet ihrer ideologischen Motivation oder wie zielgerichtet oder wirksam sie ist. Was diese Revolten eint: Die Menschen, die sich daran beteiligen, fühlen sich nicht gehört und sehen keinen anderen Weg, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen: Arabellion, Gelbwesten, Black Lives Matter, aber auch Anti-Covid-Proteste und Ausbrüche rechter Gewalt.
Das System der Gewaltenteilung im bürgerlichen Staat soll eigentlich die demokratische Teilhabe der Bevölkerung sichern: Legislative, Exekutive, Judikative und die Medien als «vierte» Gewalt. Aber die Gewaltenteilung war schon immer ein fragiles Konstrukt – bis heute. Trump in den USA, Modi in Indien und Bolsonaro in Brasilien haben große bürgerliche Demokratien völlig schamlos in einen Selbstbedienungsladen verwandelt und eine Klientelpolitik betrieben, die andere Teile der Gesellschaft vieler Rechte beraubt hat.
Aber auch in Europa ist es mit der Gewaltenteilung nicht weit her: Das gilt für die Europäische Union selbst, in der die Legislative – also das Parlament als gesetzgebendes Gremium – nur eingeschränkte Rechte hat und vieles über die Exekutive – eigentlich das ausführende Organ – bestimmt wird. In Ländern wie Ungarn und Polen wird die formale Unabhängigkeit der Judikative – also der Rechtsprechung – offen in Frage gestellt, ganz zu schweigen die der Medien.
Der bürgerlich-demokratische Staat als eine Variante des kapitalistischen Staates ist in der Krise. Auch hierzulande. Ausdruck davon ist die immer weiter gehende Ermächtigung der Exekutive durch die neuen Polizei- und Versammlungsgesetze in den Bundesländern, von denen viele ganz klar gegen Revolten gerichtet sind und sogar darauf abzielen, wirksame Proteste ganz unterbinden zu können. Das gilt etwa für das NRW-Versammlungsgesetz, das sich in seiner schriftlichen Begründung an vielen Stellen ausdrücklich gegen die Aktionen von «Ende Gelände» und «zivilen Ungehorsam» richtet (siehe auch SoZ 3/21).
Das Recht auf Widerstand
Der Staat setzt auf repressive Gewalt. Sie zielt darauf ab, Rechte weiter abzubauen. Rechte, die noch nie ein Geschenk der Reichen und Mächtigen waren, sondern immer gegen ihre Interessen erkämpft worden sind. Gegen repressive Gewalt gibt es ein Recht auf Widerstand. Nicht nur beim Abbau von sozialen- und Freiheitsrechten, sondern vor allem auch im Bereich der Ökologie gilt es, neue Regulierungen verbindlich gegen ein mächtiges Konglomerat aus Konzernen und ihren Lobbyisten durchzusetzen, deren Entmachtung Voraussetzung ist, um den Ökozid zu verhindern.
Das Recht auf Widerstand wirft aber auch die Frage nach den Mitteln und Konzepten auf. Aus der Geschichte der revolutionären Gewalt müssen Lehren gezogen werden. Zu oft hat sie eine Eigendynamik entwickelt und ist im Desaster geendet: Die Guillotine hat schließlich zum Schluss die Köpfe der französischen Revolutionäre selbst rollen lassen, der stalinistische Terror hat keinen der frühen Bolschewiki verschont und Pol Pot hatte es in Kambodscha auf alle Brillenträger abgesehen.
Heute stellt sich die Frage, wie aus der «eruptiven» Gewalt eine «reflexive» Gewalt werden kann. Die Konzepte des «zivilen Ungehorsams» in der Klimagerechtigkeitsbewegung, aber auch die Streik- und Organisationskampagnen einer zunehmend lohnabhängigen Weltbevölkerung sowie die Massenproteste von Frauenbewegung und Black Lives Matter könnten hier wegweisend werden.
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