In sozialen Netzwerken versuchen alternative Rechte, ein neues kollektives Bewusstsein zu schaffen
von Gerhard Klas
Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus
Bielefeld: transcript, 2021. 480 S., 34 Euro
Das Buch könnte «angesichts vergangener und gegenwärtiger rechtsterroristischer Anschläge, aber auch alltäglicher rassistischer, sexistischer wie antisemitischer Gewalt, aktueller nicht sein».
So bilanzierte die Jury im Mai dieses Jahres die Veröffentlichung des Medienwissenschaftlers aus Brandenburg, Simon Strick, für die sie ihm den Hans-Bausch-Mediapreis des SWR verlieh. Es sei der wissenschaftlich gut begründete sowie deutlich formulierte Aufruf, den eigenen Blick für rechtes Gedankengut und die dahinterstehenden Strategien im Netz zu schärfen. Das Buch erschien in der Reihe X-Texte des transcript-Verlags, die sich der Aufgabe widmet, unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln zu dechiffrieren.
Sie «sind weder geheim noch weit weg», schreibt Simon Strick über die alternativen Rechten. In sozialen Netzwerken und in der digitalen Welt ist es heute viel leichter, auf sie und ihre Botschaften zu stoßen, als vor einigen Jahrzehnten, als sich die Rechte eher in schwer zugänglichen Submilieus organisierte. Strick nennt das den «digitalen Kaninchenbau», aus dem viele nicht mehr herausfinden – es sind vor allem weiße und männliche Nutzer sozialer Medien. Die Attentäter von Christchurch, Halle und Hanau gehören dazu. Aber sie sind nur die Spitze eines riesigen Eisbergs, der bis ins Weiße Haus unter Trump und bis in Militär, Polizei und Verfassungsschutzbehörden hinabreicht, bis in bürgerliche Parteien, Betriebe, Büros, Vereine, Nachbarschaften, Freundeskreise und Familien.
Die heutigen Rechten präsentieren sich nicht als Ewiggestrige, sondern als alternative Gegenmacht, beanspruchen für sich Meinungsfreiheit und demokratische Rechte, geben sich dissident und gerieren sich als Befreiungsbewegung. Demokratie versus Faschismus funktioniere heute deshalb nicht mehr, meint Simon Strick. Die alternative Rechte will ihre Anhänger nicht mehr auf ein minutiös definiertes ideologisches Manifest einschwören, sondern sucht emotionale Anschlussstellen. Die sozialen Medien bieten dafür massenhafte Möglichkeiten.
Der Medienwissenschaftler hat dazu jahrelang in US-amerikanischen und deutschsprachigen Chat-Groups, bei Gamern, Youtoubern und auf Plattformen recherchiert. Dabei hat er keine Daten erhoben, er reklamiert für sich auch keine objektive Perspektive. Er hat vielmehr qualitative Forschung betrieben und folgte dabei seinem Vorbild Klaus Theweleit, dem deutschen Literatur- und Kulturwissenschaftler, der für sein 1977 erschienenes Buch Männerphantasien die autobiographischen Notizen von Freikorpssoldaten ausgewertet hat, um die Entstehung faschistischen Bewusstseins zu durchleuchten. Simon Strick konnte im Vergleich zu Theweleit in der digitalen Welt auf ein Vielfaches an Quellen zurückgreifen.
Was er zu Tage gefördert hat, gibt zu denken. Der alternativen Rechten gelinge es, berechtigte Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen umzudrehen: Diskussionen über Rassismus interpretiert sie als Anti-Weiße-Politik, Feminismus als Männerfeindlichkeit. Aus «Black Lives Matter» macht sie «white lives matter». Geschähe dies in kleinen, abgegrenzten Zirkeln, wären diese intellektuellen Zumutungen nicht mal eine Randnotiz wert. Aber mit ihren Botschaften und Videos erreicht die alternative Rechte ein Millionenpublikum in den sozialen Netzwerken, mit dem sie interagieren kann und das ihre Botschaften von der Abwertung anderer Menschen weiter verbreitet. Das wirkt wie ein Brandbeschleuniger.
Die alternative Rechte greift Reizthemen wie Corona auf, sie setzt auf männlich-weiße Identitäten, kreiert Bedrohungsszenarien und schürt Ängste, für die sie einfache Lösungen parat hält. Diese Gefühle, das betont Strick immer wieder, sind die Tür zu Verschwörungstheorien und rechter Ideologie. Mit «postkolonialer Extremismus», «Staatsfeminismus» oder «Kulturmarxismus» umschreibt die alternative Rechte eine vermeintliche Unterdrückung, gegen die weiße Männer sich wehren müssten, damit sie nicht wie die amerikanischen Ureinwohner enden. Diese Vergleiche gibt es tatsächlich – ebenso wie den Davidstern auf den Demonstrationen der Corona-Leugner.
An wenigen Stellen schießt Strick im Bemühen, die rechten Netzstrategien und Debatten bis ins letzte Detail zu dechiffrieren, über das Ziel hinaus – etwa wenn er die Kritik an der cancel culture, also dem Verbieten und Zensieren nichtkonformer öffentlicher Debatten, pauschal der politischen Rechten zuschlägt. Dann gehen in den Augen Stricks auch Linke wie der US-Linguist Noam Chomsky, afroamerikanische Schriftststeller und Feministinnen den alternativen Rechten auf den Leim, weil sie einen offenen Brief gegen diese cancel culture zur Verteidigung der Meinungsfreiheit in den USA unterzeichnet haben.
Seine zentrale These lautet: Die alternative Rechte versucht, die Räume im vorpolitischen Raum zu besetzen und über soziale Medien ein neues kollektives Bewusstsein zu schaffen. Das hat Simon Strick in seinem reich illustrierten Buch gut belegt. Seine Warnung, dass diese Entwicklung nicht allein mit Faktenchecks gestoppt werden kann, sollte nicht ungehört verklingen.
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