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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2021

Thomas Ebermanns Plädoyer für das uneingeschränkte Recht auf Leben
von Wolfgang Hien*

Thomas Ebermann: Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie. Hamburg: Konkret Literatur Verlag, 2021. 136 S., 19,50 Euro

Thomas Ebermann hat ein Buch gegen die Corona-Leugner geschrieben, genauer: ein Buch gegen die linken Corona-Verharmloser. Störung im Betriebsablauf heißt es, und man kann darin viele grundsätzliche Überlegungen zur Frage finden, was eigentlich «links» ist und was nicht.
Ebermann wurde als Schüler in der 68er-Bewegung politisiert, verdingte sich als Arbeiter, wurde Berufsrevolutionär und gilt seit Mitte der 70er Jahre als eine der Hamburger Koryphäen eines unorthodoxen Marxismus. Er war Gründungsmitglied und Bundestagsabgeordneter der Grünen, von denen er sich wegen deren Anpassungspolitik 1990 lossagte. Er wirkte fortan als Satiriker und kritischer Publizist. Aus seiner Verachtung für das kapitalistische System und für alle, die sich ihm andienen, macht er keinen Hehl.
Sein neues Buch – eine Sammlung von Reden und Aufsätzen – ist durchwoben von einer Grundsatzkritik an den herrschenden Zuständen, einer Kritik der «Normalität»: Die Art und Weise, wie wir gezwungen sind zu leben und zu arbeiten, wie uns ein oktroyierte Arbeitsmoral zu Marionetten des Systems macht, wie entfremdende Bedürfnisse hergestellt werden, wie der Konsumismus unsere Gefühle und Gedanken verdreht, wie sich im Alltag Sozialdarwinismus durchsetzt, wie es um den «Bewusstseinsstand der Mehrheit der Menschen» bestellt ist – all das erfüllt Ebermann mit Abscheu.
Zugleich lässt er keinen Zweifel an seiner humanistischen Intention aufkommen. Sein Buch ist ein Plädoyer für das Leben, genauer: für das uneingeschränkte Recht auf Leben, ein flammendes Plädoyer gegen den Tod. Für ihn steht das Recht auf Leben über allen anderen Grundrechten, gleichsam überzeitlich und jenseits aller Systemfragen.
Er argumentiert explizit nicht auf der Basis des Grundgesetzes und überschüttet deren linke Verteidiger:innen mit Hohn und Spott. Allen Unkenrufen, die in den Corona-Schutzmaßnahmen das Heraufkommen eines Polizeistaats oder einer Gesundheitsdiktatur sehen wollen, erteilt er eine klare Absage.

Der Männlichkeitswahn
Dieses Buch ist in seiner Kompromisslosigkeit und seinem impliziten Geschichtspessimismus eine Herausforderung. Gnadenlos schält Ebermann die Schwachstellen der Zero-Covid-Kampagne heraus, etwa die immer wieder latent auftauchende Argumentation, eine konsequentere Schutzpolitik bringe auch der kapitalistischen Wirtschaft Vorteile.
Der Autor macht es seinen Leser:innen nicht leicht. Er taucht sehr tief in die (ältere) «Kritischen Theorie» ein: Mit Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse unterscheidet er zwischen richtigen und falschen Bedürfnissen und kommt zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Menschen und eben auch viele «Grundrechte-Verteidiger» von falschen Bedürfnissen geleitet sind. Dass sich jetzt, zu Pandemiezeiten, angeblich politisch Aufgeklärte plötzlich als Verweigerer und Widerstandskämpfer gerieren, ist ihm zutiefst suspekt. Warum, so fragt er mit Marcuse, riefen sie die ganzen Jahre zuvor nicht zu massenhaftem Verweigern und Ungehorsam gegen den ganz normalen Irrsinn der Arbeitsdisziplin auf? Denn die kapitalistische Arbeitsgesellschaft lässt eigentlich nur eine Antwort zu: «Ausbreitung von Untüchtigkeit, Arbeitswiderstand, Verweigerung von Pflichterfüllung».
Überzeugend finde ich Ebermanns Kritik des Männlichkeitsmythos, einer Mentalität, derzufolge uns Gefahren nichts anhaben können und das, was uns nicht tötet, nur härter machen kann. Überzeugend finde ich sein Eintreten für das Sein-Können von Schwäche, Sorge, Angst und Verzweiflung.
Wie anders sollte man auch auf die Irrationalität der «Normalität» reagieren? Nur wer Angst zulässt, kann Kraft zur Veränderung gewinnen. Angst aber kann auch zur Verzweiflung führen – kaum verwunderlich angesichts des Zustands der Welt.
Ebermann geht der «Ideologie des Todes» in einem eigenen Kapitel genauer nach. Die Kritische Theorie hat sich seinerzeit vehement von der Todessehnsucht distanziert, wie sie insbesondere in der Heideggerschen Variante der Existenzphilosophie zum Ausdruck kam. Er zitiert Adorno: «In einem nicht länger entstellten, versagenden Leben, einem, das die Menschen nicht mehr um das Ihre betröge, brauchten sie nicht mehr vergebens zu hoffen, dass es ihnen doch noch das Versagte gewähre, und darum auch gar nicht mehr so sehr zu fürchten, es zu verlieren, wie tief ihnen solche Angst auch eingefleischt ist.» Dieser Vision ist uneingeschränkt zuzustimmen.
Wenn Adorno dann aber schreibt: «…so ist angesichts des Potenzials der Verfügung über organische Prozesse, das Umriss gewinnt, der Gedanke einer Abschaffung des Todes nicht a fortiori abzutun», kommt hier ein Amalgam aus Illusionen, Wissenschaftsglauben und schlichter Angstabwehr zum Vorschein, der bei den sonst so wissenschaftskritischen Autoren verwundert. Im Klartext: Adorno und Marcuse hofften beide nicht nur, dass uns Maschinen irgendwann Arbeit und Mühsal vollständig abnehmen würden; sie setzten auch große Hoffnungen auf die «in Umrissen» sichtbaren Fortschritte in Molekularbiologie, Gentechnik, Elektronik und Kybernetik.
Das ist Wasser auf die Mühlen der Propagandisten des Posthumanismus. Hier hätte sich der Renzensent mehr kritische Distanz gewünscht. Uneingeschränkt zuzustimmen ist Ebermann, wenn er das theoretische Inkaufnehmen von Covid-Toten oder das «Wir-müssen-alle-mal-sterben»-Schwadronieren verdammt.
Ebermanns neues Buch öffnet den Leser:innen die Augen für die herrschende Irrationalität und fordert sie zu einem tiefen Nachdenken heraus, wie das Leben der kommenden Generationen aussehen soll.

*Wolfgang Hien war Referatsleiter für Gesundheitsschutz beim Bundesvorstand des DGB. Er leitet derzeit das Forschungsbüro für Arbeit, Ge­sundheit und Biografie in Bremen.

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