Kohl hat Krisen ausgesessen, Merkel hat sie moderiert
von Paul B. Kleiser
Unter der langen Kanzlerschaft von Angela Merkel wurde das System der öffentlichen Daseinsvorsorge stärker zerrüttet als jemals zuvor. Von Vorbereitungen auf den Klimawandel konnte keine Rede sein. Das fällt uns jetzt auf die Füße.
Eigentlich wollte Angela Merkel bereits vor vier Jahren ihren Job an den Nagel hängen, doch die Wahl von Donald Trump und das Drängen von Barack Obama und Emmanuel Macron, angesichts zu erwartender Bocksprünge in Washington weiterzumachen, scheint erfolgreich gewesen zu sein. Für jemand, der lange Nachtrabpolitik hinter die USA betrieben hatte (im Gegensatz zu Gerhard Schröder wollte sie noch mit Bush in den Irak einmarschieren, um dort die Demokratie zu verwirklichen!), war Trumps Wahl ein Tiefschlag. So ernannte man sie zur «Führerin des freien Westens».
Ihr Programm 2017 beschränkte sich damals auf die Aussage: «Sie kennen mich». Und zumindest in den letzten acht Jahren wurde Merkel nicht wegen ihres Programms gewählt, sondern weil sie sich in den diversen Krisen – beginnend mit der Banken- und Finanzkrise, über Griechenland und den Euro, die Flüchtlinge usw. – im Sinne der hierzulande gültigen Interessen achtbar geschlagen hat.
In einer Männerpartei wie der CDU (sie machen 80 Prozent aus) hätte Angela Merkel niemals eine Chance gehabt, wenn nicht im Jahr 2000 fast die gesamte Führungsriege, angeführt von Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble, in den Spendensumpf gestürzt wäre. Als Generalsekretärin ergriff Merkel ihre Chance durch einen Artikel in der FAZ am 22.12.1999, in dem sie mit der alten Führungscrew und besonders mit Kohl abrechnete. Dazu gehörte nach zwei Jahrzehnten Kohl und seinem System des parteiinternen Interessenausgleichs zweifellos schon einiger Mut, den die «Westler» nicht aufbrachten. Somit wurde sie als Führungsperson in gewisser Weise «alternativlos».
Das bedeutete nicht, dass nicht andere bei wichtigen Entscheidungen von Partei und Regierung mitbestimmten: Wolfgang Schäuble konnte die Griechen (gegen Merkels Willen) nicht aus dem Euro drängen, aber ein Schuldenschnitt kam für ihn nicht in Frage. Als Finanzminister (2009–2017) bestimmte er – zusammen mit der SPD – weitgehend die (innenpolitischen) Richtlinien der Politik.
Die Zusammenarbeit mit der SPD ermöglichte es Merkel, den konservativen Flügel ihrer Partei («die Mittelstandsvereinigung») auf Distanz zu halten. Interessant ist, dass zwei «Pflichtprotestanten» eine Partei anführten, in der ansonsten die Katholiken (Adenauer, Barzel, Kohl, Koch, Laschet) wie selbstverständlich den Ton angeben. Noch vor kurzem setzte Schäuble Armin Laschet als Kanzlerkandidaten gegen (den Protestanten) Markus Söder durch – während sich Merkel zwischen den beiden nicht entscheiden wollte.
Die Wende zur «Mitte»
Programmatisch war ihr nach 2005 und nach Schröders «Agenda 2004» rasch klar geworden, dass die Mehrheit der Deutschen die radikal-neoliberalen Konzepte eines Friedrich Merz (Kopfpauschale in der Krankenversicherung, Steuererklärung auf einem Bierdeckel), die auf dem Leipziger Parteitag 2003 verabschiedet worden waren, aber auch die von ihr mitgetragene «Agendapolitik» der Großen Koalition nicht sonderlich goutierte. Friedrich Merz wurde durch Volker Kauder als Fraktionschef ersetzt, und der Mann trieb fortan bis 2020 bei Blackrock sein Unwesen.
Den größten Fauxpas (aus Sicht ihrer rechten Kritiker:innen) beging Merkel in der konservativ-liberalen Koalition nach 2009, als sie unter dem Druck der vier größten Stromerzeuger zusammen mit Westerwelle gegen den rot-grünen Atomausstieg die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke beschloss. Als nach einem Erdbeben am 11.März 2011 im japanischen Fukushima das dortige AKW explodierte und weltweit tausende Menschen demonstrierten, trat Merkel die schnelle Kehrtwende an und handelte einen Ausstieg mit «Restlaufzeiten» aus. Als Physikerin konnte sie sich nach eigenen Angaben so eine Katastrophe gar nicht vorstellen, so sehr war sie von der Technikgläubigkeit beherrscht.
2013 flog die FDP dann erstmals aus dem Bundestag. In der neuen Großen Koalition schwenkte sie – insbesondere unter dem Druck der Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren zahlreichen Bankenpleiten – auf einen stärker staatsinterventionistischen Kurs ein.
Merkels Grenzen
Die Corona-Krise und die massiven Zerstörungen in Rheinland-Pfalz und NRW nach sintflutartigen Regenfällen im Juli 2021 haben in aller Deutlichkeit die Grenzen der Politik der Merkel-Regierungen aufgezeigt. Die zuständigen Behörden, angefangen mit dem Horst Seehofer unterstehenden Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), haben völlig versagt. Obwohl diverse Warnsysteme Starkregen voraussagten – der Deutsche Wetterdienst meldete bereits am 13.Juli «Hochwasser, Überflutungen, Erdrutsche» – hat das BKK nur vage Warnungen von sich gegeben. Der Chef der Behörde, Armin Schuster (CDU), fand es nicht einmal nötig, seinen Urlaub abzubrechen. Und gegen den Landrat von Ahrweiler, Jürgen Pföhler, ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung und Körperverletzung. Mit kleineren Korrekturen und Reformen so weitermachen wie bisher, wird in Zukunft nur um den Preis noch größerer Unglücke möglich sein.
In der Klimapolitik ist in den letzten beiden Dekaden viel zu wenig passiert, um die Katastrophe, die weit schneller voranschreitet als selbst von Spezialisten eingeräumt, noch abzuwenden. Vor allem der Umbau des Energiesystems auf klimaneutrale Energiequellen kommt – auch wegen bürokratischer Hemmnisse wie der 10-H-Regel bei Windrädern (Mindestabstand vom zehnfachen ihrer Höhe zu Wohngebäuden in Gebieten mit Bebauungsplänen), viel zu schleppend voran. Und die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Verwaltungsstrukturen – sowohl das Gesundheitswesen als auch die allgemeine Verwaltung – hoffnungslos veraltet sind. Vor allem aber das neoliberale System der «Fallpauschalen» steht einer vernünftigen und gerechten Behandlung der Kranken im Weg. Das führt auch in diesem Bereich zu einer deutlichen Verschärfung der sozialen Ungleichheiten.
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