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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2021

Bei den Tarifrunden im Handel hat Ver.di eine harte Nuss zu knacken
von Helmut Born

Seit April dieses Jahres laufen die Tarifrunden im Einzel-, Groß- und Außenhandel, ohne dass ein Ergebnis erzielt wurde. Das Problem ist: Kaum jemand nimmt Notiz davon, was in diesen Bereichen passiert, es gelingt nur schwer, die Öffentlichkeit zu erreichen.

Das hat sicher mit der Pandemie und der Flutkatastrophe zu tun, die alle anderen Themen überlagern. Gerade der Einzelhandel war in besonderer Weise von der Pandemie betroffen.
Im Einzelhandel haben wir es mit einer gespaltenen Konjunktur zu tun. Da sind zuallererst die Profiteure der Pandemie. Dazu gehören die Lebensmittelsupermärkte, Discounter, Drogeriemärkte, die SB-Warenhäuser, die hauptsächlich Lebensmittel verkaufen, und natürlich der Online-Handel. Alle hatten seit März 2020 hohe Umsatzsteigerungen, was sich natürlich auch auf die Gewinne niedergeschlagen hat.
Auf der anderen Seite gab es aber Verlierer. Das waren die Geschäfte, die hauptsächlich Textilien, Schuhe, Möbel und alle anderen Sachen verkaufen, die nicht unbedingt für den direkten Lebensunterhalt nötig sind. Diese Geschäfte waren über Monate geschlossen und konnten ihre Ware häufig nicht los werden oder mussten sie nach der Öffnung mit großen Rabatten verkaufen. Darunter fallen viele bekannte Unternehmen, aber auch kleine Geschäfte, deren Besitzer kaum über große Rücklagen verfügen und auf die zähfließenden staatlichen Gelder dringend angewiesen waren.
Das härteste Los in dieser Zeit traf allerdings die Beschäftigten, die über Monate in Kurzarbeit waren, in deren Betrieben oftmals kein Betriebsrat existiert und die häufig mit 60 bzw. 67 Prozent Arbeitslosengeld abgespeist wurden.
In den Betrieben, in denen es ein Betriebsrat gibt, konnten die Regelungen durchgesetzt werden, die Ver.di zur Aufstockung des Kurzarbeitergelds erreicht hatte: zu Anfang 100 Prozent Ausgleich, nach drei Monaten immerhin 80 Prozent des Nettoeinkommens.

Ver.di ist im Handel geschwächt
Zum Start in die Tarifrunde im Frühjahr dieses Jahres waren also noch viele Beschäftigte aus den geschlossenen Betrieben in Kurzarbeit. In den Bereichen, in denen während der Pandemie durchgearbeitet wurde, ist der Organisationsgrad sehr schwach. Wer kann sich schon vorstellen, dass bei Rewe, Edeka, Aldi, Lidl oder Netto gestreikt wird? Das gab es in der Vergangenheit ganz selten, und in dieser Situation mit diesen Bereichen Druck aufbauen zu können, ist schier unmöglich. Lediglich bei den SB-Warenhäusern wie Kaufland, Marktkauf etc. waren Aktionsmöglichkeiten vorhanden.
Dabei muss noch berücksichtigt werden, dass Ver.di in den letzten Jahren durch die Verkäufe von Kaufhof und Real durch die Metro und die daraus folgenden Turbulenzen mit der Zerschlagung und Schließung vieler Häuser sehr kampfstarke Bereiche weggebrochen sind.
Der Groß- und Außenhandel spielt im Fachbereich Handel bei Ver.di nur eine Nebenrolle. Die Betriebe, die in Tarifrunden handlungsfähig sind, wurden in den letzten Jahren immer weniger. Trotzdem gab es hier meist vor dem Einzelhandel Abschlüsse. Aber auch das gibt es in diesem Jahr nicht, obwohl dieser Bereich nicht so heftig von der Pandemie getroffen wurde. Die Folgen der wirtschaftlichen Krise bekam aber auch er zu spüren. Wie in anderen Bereichen auch nutzt das Kapital das momentane Kräfteverhältnis rigoros aus und mutet den Gewerkschaften Abschlüsse zu, die Lohnabbau bedeuten.
Obwohl die Forderung nach 4,5 Prozent mehr Lohn schon sehr moderat war, ist es bis heute nicht möglich gewesen, zu einem Tarifabschluss zu kommen.
In den letzten zwei Monaten ist die Tarifrunde im Einzelhandel in die aktive Phase getreten. Es finden vermehrt Streiks, Demonstrationen und Aktionen in den Betrieben statt. Die Unternehmer wollen unbedingt einen differenzierten Abschluss, der ihnen erlaubt, die Lohnerhöhung nach Geschäftslage zu zahlen – oder auch nicht. Ungefähr so: der Lebensmittelhandel und Online-Handel sollen zahlen, die Textilien nicht. Eine entsprechende Empfehlung wurde im Juli an die Firmen ausgegeben: Wer es sich erlauben kann, möge den Beschäftigten 2 Prozent mehr zahlen, wer nicht, solle nichts zahlen.
Dagegen gilt es jetzt anzukämpfen. Die Preissteigerungsrate ist im August auf 3,8 Prozent gestiegen, sie würde die Durchsetzung der Forderung nach 4,5 Prozent notwendig machen. Aufgrund der beschriebenen Situation wird dies nicht möglich sein.
Ver.di hat den Vorschlag gemacht, dass eine Tarifsteigerung auch in Freizeit abgegolten werden kann. Das wurde bei der Post, der Bahn oder in der Metallindustrie schon vereinbart. Ob die Handelsunternehmer diesen Weg mitgehen werden? Wenn sie sich dagegen entscheiden, können diese Tarifrunden noch etwas dauern. Ein Abschluss von nur 2 Prozent mit einer dreijährigen Laufzeit und noch geringeren Erhöhungen in den Folgejahren wird Ver.di sich nicht erlauben können.

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