…wenn die Gewerkschaften sich nicht besinnen, endlich mal die Zähne zu zeigen
von Manfred Dietenberger
«Im Bund regieren wie in NRW» will Armin Laschet, wenn die Union es in die nächste Bundesregierung schafft. «Entfesselung» heißt das Zauberwort, auf das sich Union und FDP auch bundesweit in ihrem Wahlplattformen verpflichtet haben. Die Unternehmerverbände sagen deutlich, was sie entfesselt haben wollen.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage vor den Bundestagswahlen im September 2021 ist vor allem das Resultat der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Jahre 2003 bis 2005, die sich – verkürzt – mit dem Stichwort «Agenda 2010» beschreiben lassen. Diese asoziale Politik gegen die Interessen der Mehrheit der Beschäftigten in diesem Land geht auf das Kerbholz derer, die wohl in irgendeiner Konstellation in der künftigen Regierung wieder auftauchen. Denn laut Meinungsumfragen liegen die Werte für die Union, die SPD und die Grünen dicht beieinander, während die FDP darauf hofft, wieder in die Rolle der Königsmacherin zu kommen.
Statt denen, die an die Futtertröge in Berlin wollen, selbstbewusst wenigstens in Granit gehauene Wahlprüfsteine in den Weg zu legen mit den Forderungen, die für die abhängig Beschäftigten bei Themen wie Frieden, Lohn, Arbeitsbedingungen, Renten, Wohnen, Klima unabdingbar sind, zieht es der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) vor – stärker als je zuvor an die kapitalistisch-nationalistische Standortlogik gekettet –, darauf zu verweisen, wie gut man doch Hand in Hand mit Kapital und Politik die gegenwärtige Krisen gemeinsam gemeistert habe.
Ausgerechnet bei denen, die die Deregulierung der Arbeit und die Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts verbrochen haben, bettelt er um etwas mehr Mitbestimmung und ein paar Korrekturen an den Kollateralschäden der Agenda 2010.
Umverteilung
Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di fällt zugegeben aus dem Rahmen. Anders als die übrigen Gewerkschaften hat sie schon vor der Bundestagswahl zur Umverteilung des Reichtums und höheren Steuereinnahmen für eine gerechtere Gesellschaft aufgerufen. Der Ver.di-Vorsitzende Frank Werneke fordert, der Arbeitsmarkt müsse neu geordnet werden – mit höherem Mindestlohn und weniger prekärer Beschäftigung.
Aber auch Ver.di kommt noch viel zu zahm daher. Das war mal anders. Im Bundestagswahljahr 1953 war dem DGB noch klar: «Die Millionen Stimmen der Arbeiter, Angestellten, Beamten und Rentner können die Millionen Wahlgelder der Unternehmer mit einem Schlage und an einem Tage bedeutungslos machen», so hieß es im Aufruf zum 1.Mai, der an die Kolleginnen und Kollegen appellierte:
«Von allen Arbeitern, Angestellten, Beamten, Rentnern und ihren Angehörigen, nicht zuletzt von den Jungwählern, erwarten die Gewerkschaften, dass sie bei den bevorstehenden Wahlen ihre demokratischen Rechte nutzen. Wenn sie nur solche Männer und Frauen in den Bundestag wählen, die bereit sind, im Sinne der Gewerkschaften die Gesetzgebung und das öffentliche Leben fortzuentwickeln, dann kann ein neuer und besserer Abschnitt des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens eingeleitet werden.»
In die heiße Phase des Wahlkampfs mischte sich der DGB erneut mit einem Aufruf «Für einen besseren Bundestag» ein. Plakate mit Parolen wie «Wählt einen besseren Bundestag» und «Wählt! Aber wählt richtig!» unterstützten die Aktion.
Die CDU/CSU erreichte dennoch mit über 45 Prozent der Zweitstimmen die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Konrad Adenauer (CDU) bemerkte hämisch: «Nun haben die Herren einen starken Dämpfer bekommen; denn trotz der ungeheuren Arbeit, die sie sich gemacht haben … hat die Wahl nun so geendigt.»
Im September 2021 werden die abhängig Beschäftigten nach der Wahlschlacht mit einem «starken Dämpfer» nicht davonkommen. Denn das Kapital streitet ganz klassenkämpferisch für seine Kapital- und Profitinteressen.
Beispiel: Arbeitszeit
Die Arbeitgeberverbände fordern massiv die Aufweichung der Arbeitszeitgesetze. Die geltenden entsprächen nicht mehr den Realitäten der Arbeitswelt. Hubertus Heil, SPD-Arbeits- und Sozialminister in der Bundesregierung, hat unter dem Vorwand der Corona-Krise bereits eine Verordnung erlassen, die die Arbeitszeitregelungen aufweicht. Sie erlaubt den Unternehmensleitungen, ihre Beschäftigten zu verpflichten, bis zu 12 Stunden täglich zu arbeiten und die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von 11 auf 9 Stunden herunterzukürzen.
Die Verordnung gilt für lohnabhängig Beschäftigte im Gesundheitssektor, in der Daseinsvorsorge und anderen sog. systemischen Wirtschaftsbereichen und ist eigentlich befristet bis zum 31.Juli 2021. Von einer Aufhebung der Verordnung hat man nichts gehört, somit ist zu befürchten, dass es dabei bleibt und die Regelung noch auf andere Branchen ausgedehnt wird.
So fordert z.B. Bertram Brossardt von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die Mindestruhezeit von elf Stunden müsse fallen, weil «die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal zehn Stunden nicht mehr zeitgemäß» sei. Der Handelsverband Deutschland (HDD) fordert für sich vehement bessere Rahmenbedingungen und mehr Rechtssicherheit für eine erweiterte Sonntagsöffnung. Er hofft, mit verkaufsoffenen Sonntagen in den Innenstädten das Geschäft im Einzelhandel zu beleben. Das ist ein Generalangriff auf die im Handel Beschäftigten, ihre Familien – und auf das Grundgesetz.
Probelauf NRW
Die Landesregierung von NRW (aus CDU und FDP) hat das Scheunentor dafür schon weit aufgerissen und unter Corona als Vorwand ein erstes «Entfesselungsgesetz» verabschiedet. O-Ton des Landesverkehrministers Hendrik Wüst: «Mit dem ersten Entfesselungsgesetz der NRW-Koalition … werden jetzt zahlreiche bürokratische Hürden für Wirtschaft und Mittelstand abgeschafft. Das Gesetz ist ein Aufbruchsignal für bessere Standortbedingungen. Die Landesregierung hat schon jetzt gegenüber dem Mittelstand, dem Handwerk und der Wirtschaft Wort gehalten und geht erste wichtige Schritte in Richtung Bürokratieabbau und Entlastung von Unternehmen und Arbeitnehmern. Die wichtigsten Änderungen sind eine vernünftige und abgewogene Regelung der verkaufsoffenen Sonntage.»
Nicht nur nebenbei: Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck lehnt eine «Fundamentalopposition» der Kirche, «wie sie Ver.di an den Tag legt», prinzipiell ab. Mit dem Segen der Kirche wird der freie Sonntag nach den Wahlen wohl auf dem Altar des Profits beerdigt werden. Die Mörder und Totengräber des Arbeitsverbots am Sonntag stehen schon bereit.
Arbeiten bis zum Umfallen
Ulrich Grillo, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, fordert, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln. Ihm ist klar, was das bedeutet: «Wenn Menschen eines Tages 100 werden, würde sich rein theoretisch ein Renteneintrittsalter von 85 Jahren ergeben.» Diejenigen, für die die Altersversorgung ein hochprofitables Geschäft ist, wie z.B. Alexander Leisten, Leiter des Deutschlandgeschäfts der Investmentgesellschaft Fidelity International, fordern deshalb eine staatlich geförderte, private, am Kapitalmarkt orientierte Altersvorsorge.
Und die Unternehmer wollen noch viel mehr! Die Tarifbindung stört sie erheblich bei ihrer Profitmacherei, sie fordern weniger statt mehr gesetzliche Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Ressortminister für Arbeit, Soziales und Entwicklung werden auch in der künftigen Regierung wenig bis nichts zu sagen haben: Den Ton angeben, sagen wo es lang geht und entscheiden werden der CDU-Wirtschaftsrat, der Gewerkschaftshasser Friedrich Merz und die nach Legionen zählenden Wirtschaftslobbyisten.
Der Ton macht bekanntlich die Musik – blasen wir zur Verteidigung und Gegenangriff. Erster Schritt: «Wählt! Aber wählt richtig!»