Desaster ohne Ende
von Tobias Pflüger
Es waren dramatische Szenen im August auf dem Flughafen von Kabul. Nachdem die Taliban die Stadt eingenommen hatten, drängten sich hunderte Menschen auf dem Rollfeld in der Hoffnung, eines der Flugzeuge zu erwischen, das sie außer Landes und vor den Taliban in Sicherheit bringen konnte. Es waren Bilder wie im Vietnamkrieg 1975 beim Fall von Saigon. Die deutsche Bundesregierung trägt hier eine Mitverantwortung.
Die Bundesregierung hat beim Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan mehrfach versagt. Sie hat, und dabei vor allem SPD-Außenminister Heiko Maas, viel zu lange an der Fiktion festgehalten, dass zwanzig Jahre Kriegseinsatz in Afghanistan das Land nachhaltig verändert hätten und der Aufbau der afghanischen Armee, wenn auch mit Schwierigkeiten, vorangegangen sei. Noch wenige Tage vor dem Fall von Kabul erklärten Vertreter der Bundesregierung vor Abgeordneten im Bundestag, die afghanische Hauptstadt wäre eine «Bastion der Republik» und würde als solche nicht an die Taliban fallen.
Ortskräfte werden zurückgelassen
Bei ihrem Abzug hat die Bundeswehr auch ihre ehemaligen afghanischen Ortskräfte sträflich vernachlässigt. Für sie wurde ein Verfahren entwickelt, das völlig bürokratisch und realitätsfern war. Sie mussten in den Kriegswirren nach Kabul kommen, wo biometrische Daten erfasst und Anträge gestellt werden sollten.
Die Kriterien für die Anerkennung waren sehr eng gefasst und zeugten von wenig Empathie für die Helfer:innen der Bundeswehr, denen unter den Taliban Verfolgung droht. Bekamen Ortskräfte dann eine Einreisegenehmigung nach Deutschland, mussten sie selbst und auf eigene Kosten ihre Reise nach Deutschland organisieren.
Dass es auch anders gegangen wäre, zeigt das Beispiel Frankreich. Schon vor Mai wurden 800 gefährdete Ortskräfte ausgeflogen, zwischen Mai und Juli weitere 623. Die Bundeswehr dagegen kümmerte sich nur darum, militärisches Gerät zurückzufliegen, aber auch einen 27 Tonnen schweren Gedenkstein, der vom deutschen Camp Marmal in Masar-e-Sharif in den Wald der Erinnerung in Schwielowsee versetzt werden soll.
Restriktiv gegen Flüchtlinge
Nachfragen der LINKEN in den Bundestagsausschüssen machten immer wieder deutlich, dass diese restriktive Linie kein Zufall war. Die Bundesregierung wollte nicht zu viele Flüchtende aus Afghanistan aufnehmen. Dabei hatte Kanzlerin Angela Merkel persönlich auf die Evakuierung von Ortskräften gedrängt, sie war aber von den beteiligten Ministerien, also Äußeres und Verteidigung, ausgebremst worden. Stattdessen forcierte Innenminister Horst Seehofer (CSU) entgegen allen Warnungen von Hilfsorganisationen bis zuletzt Abschiebungen nach Afghanistan. Erst am 11.August rückte er plötzlich davon ab und setzte sie aus – allerdings nur «zunächst», wie er betonte.
Dabei hätte es durchaus Hinweise auf den schnellen Fall Kabuls gegeben. Wie der Spiegel berichtet, hatte Emily Haber, die deutsche Botschafterin in Washington, Anfang August in einem geheimen Kabelbericht eben davor gewarnt und Notfallpläne für die deutsche Botschaft in Kabul gefordert. Doch die Bundesregierung hat den Bericht ignoriert und dadurch wertvolle Zeit verloren und letztlich Menschenleben gefährdet.
In dem Bericht heißt es laut Spiegel weiter, Washington sei auf einen schnellen Kollaps der Regierung in Kabul vorbereitet. Man gehe davon aus, Deutschland sei auch darauf eingestellt. Die Bundesregierung hat den Bericht inzwischen als «VS – vertraulich» eingestuft und enthält ihn trotz Nachfragen dem Bundestag vor.
Erst nach dem Fall von Kabul hat die Bundesregierung umgesteuert und mit der Evakuierung von Gefährdeten begonnen. Evakuiert wurde aber nur aus Kabul, obwohl doch ehemalige Bundeswehrstandorte wie Masar-e-Sharif viel näher an der Grenze zu Tadschikistan liegen. Wie schlecht die Evakuierung lief, davon zeugen die vielen Anfragen von Gefährdeten, die via E-Mail die Abgeordneten des Bundestags um Hilfe baten.
Solche Anfragen wurden an die zuständigen Stellen weitergeleitet, aber in einigen Fällen verweigerte die Bundesregierung mit Verweis auf nicht nachprüfbare Geheimdiensterkenntnisse explizit die Aufnahme. Insgesamt hat die Bundeswehr mehr als 5000 Menschen ausgeflogen, darunter 4000 Afghaninnen und Afghanen. Aber darunter waren nur 138 Ortskräfte, mit ihren Angehörigen waren es zusammen etwa 650 Personen (so die FAZ vom 3.9.).
Hektische Reisediplomatie
Die restriktive Aufnahmepolitik ging aber noch weiter. Während in Kabul die Taliban ihre Macht konsolidierten, brach Außenminister Heiko Maas zu einer Reise in die Nachbarstaaten auf. Diese sollen jetzt zur Aufnahme von Gefährdeten aus Afghanistan bewegt werden.
Erste Station war die Türkei, die anbot, den zivilen Teil des Flughafens Kabul zu betreiben. Einmal mehr kooperiert die Bundesregierung also mit dem türkischen Machthaber Erdogan, von dem sie sich schon 2016 durch den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal abhängig gemacht hat.
Danach ging es weiter nach Usbekistan und Tadschikistan. Die Länder liegen nach dem Demokratieindex des Economist auf den Plätzen 155 und 157 von insgesamt 167 Staaten. Beide Länder stehen dem Wunsch, ihre Grenzen nach Afghanistan zu öffnen, skeptisch gegenüber.
Auch Pakistan verlangt bei der Einreise Pass und Visum. Auch hier machte Heiko Maas Station – freilich ohne anzusprechen, dass Pakistan die Taliban jahrelang unterstützt hat. Schließlich ging es dem deutschen Chefdiplomaten darum, die Aufnahme von Flüchtlingen sicherzustellen und zu erörtern, «wie Deutschland die Länder in dieser schwierigen Zeit unterstützen kann». Dafür stellt die Bundesregierung 100 Millionen Euro bereit, weitere 500 Millionen «zur Versorgung der Geflohenen» sollen folgen.
Nachdem die Bundesregierung versagt hat, sollen es jetzt also Nachbarstaaten richten. «Heiko Maas versucht die Scherben seiner Afghanistanpolitik zusammenzukehren», so die Neue Zürcher Zeitung treffend. Von einer «Mission Schadensbegrenzung» sprach die Welt, von einer «Krisendiplomatie auch in eigener Sache» schrieb tagesschau.de, weil der SPD-Außenminister in den Medien mittlerweile als angezählt gilt, auch Die LINKE hat seinen Rücktritt gefordert.
«Der deutsche Außenminister versucht gerade, eine überstürzte Abzugspolitik mit allen Folgen im nachhinein irgendwie wieder halbwegs zu reparieren», kommentierte der Trierische Volksfreund: «Die Bundesregierung hat sich durch eigenes Zögern in eine schlechte Verhandlungsposition und tausende Menschen in eine höchst gefährliche Situation gebracht.»
Der Afghanistankrieg war von Anfang an zum Scheitern verurteilt und falsch. Aber wie die Bundesregierung den Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch in ein Desaster verwandelt hat, das wird in der nächsten Legislaturperiode im Bundestag hoffentlich einen Untersuchungsausschuss beschäftigen.
Statt schnelle humanitäre Lösungen zu finden, hat die Bundesregierung beim Abzug in so ziemlich jeder Situation das Falsche getan. Den Preis zahlen die Menschen aus Afghanistan, die mit westlichen Organisationen kooperiert haben und deshalb jetzt besonderen Schutz brauchen.
*Der Autor war bis zur Bundestagswahl verteidigungspolitischer Sprecher der LINKEN im Bundestag und ist stellvertretender Parteivorsitzender.