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Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2021

Filmfestspiele in Locarno 2021
von Kurt Hofmann

Auch zum Filmfestival in Locarno war in diesem Jahr wieder Publikum zugelassen. Unter den Höhepunkten des Programms befanden sich drei Filme, in deren Mittelpunkt (bemerkenswerte) Frauen stehen. Das mag Zufall sein oder auch dramaturgische Konsequenz – lassen wir es offen…

Gerda
Russland 2021
Regie: Natalja Kudrjaschowa
Lera lebt mehrere Leben: Tagsüber studiert sie Soziologie und interviewt nach den Vorlesungen in heruntergekommenen Vierteln von der Gesellschaft vergessene Existenzen zu «gesellschaftlich relevanten Themen». In ihrer Wohnung wartet die depressive Mutter auf sie, die regelmäßig unangekündigten Besuch von einem Alkoholiker und Schläger erhält – Leras Vater… Abends verdient sie als Gerda das Geld für Miete und Studium in einer Bar, an der Stange tanzend.
Für eigene Wünsche und Bedürfnisse bleibt da keine Zeit. Jeder Tag wird «absolviert» und abgehakt, immerhin wieder überlebt…
Unter ihren Kolleginnen in der Bar ist sie die Außenseiterin, die sich konsequent lukrativen «Übereinkünften» mit Kunden verweigert. Als Lena doch einmal zustimmt, sich für ein exorbitantes «Salär» gemeinsam mit einer anderen Barfrau in einem Hotelzimmer mit einem Haufen betrunkener und sabbernder Freier zu treffen, verliert die Andere wegen einer Überdosis Koks das Bewusstsein.
Gerda improvisiert, um nicht in die Fänge der kaum mehr zu haltenden Bande zu geraten, steigt auf ein Bett und beginnt, ein Lied vorzutragen, kaum hörbar, mit brechender Stimme, und es ist nicht dessen sinnbefreiter Text, der die Männer zum Schweigen bringt, vielmehr, wie deren potentielles Opfer, über das sie eben herfallen wollten, seine Ausgeliefertheit vermittelt…
Es sind Momente wie dieser, die Gerda vor dem larmoyanten Porträt der geschundenen Frau bewahren. Lera kann sich Sentimentalität nicht leisten, will auch keineswegs, so wie ihre Mutter, zu einer werden, die sich in alles fügt. Für Wut und Aufbegehren reicht es dennoch nicht, da ist allenfalls ein Sich-Verkrampfen. Irgendwann aber ist es zu viel. Das kündigt sich schon an, als Gerda entgegen der vorgeschriebenen Choreografie ihren Tanz nackt und ekstatisch, doch nicht lasziv, sondern voll sichtbarer Verachtung darbringt (wieder einer dieser Momente in Gerda) und wird am Ende sichtbar, als Lera aus der alltäglichen Misere eine Konsequenz zieht, die unabsehbare Folgen haben kann…

Niemand ist bei den Kälbern
Deutschland 2021
Regie: Sabrina Sarabi

Um den Alltag im abgeschiedenen Landleben auszuhalten, ist Alkohol dringend vonnöten. Abstinenz ist bei allen, die rund um Jans Bauernhof leben und arbeiten, unbekannt. Insbesondere Christin, Jans Freundin, greift, wiewohl ihr Vater ein rettungsloser Säufer ist, regelmäßig in unbeobachteten Augenblicken zur Flasche, anders würde sie es nicht aushalten. Christin fühlt sich in ihrer Umgebung wie ein Alien, nur die Gespräche mit ihrer besten Freundin helfen ihr darüber (gelegentlich) hinweg. Alle Männer vor Ort, längst auch Jan, haben sich als Muster ohne Wert erwiesen, neigen zu latenter Gewalt, einer hat sogar Kontakte zur Naziszene.
Die selbstbewusste und unangepasste Christin verhält sich stoisch, «macht ihr Ding» und hat erst genug, als sie der Mann in mittleren Jahren aus dem urbanen «Draußen», der erfahrene Liebhaber, beim Sex mit einer Zigarette brandmarkt wie eine Kuh – das kennt sie schon…
Niemand ist bei den Kälbern erzählt Christins Geschichte knapp und reduziert im Stil der «Berliner Schule», nur eben im (engsten) ländlichen Raum angesiedelt. So, wie sich Christin verhält, ist das in ihrer Umgebung nicht vorgesehen, nur als Alien kann sie überleben.

Medea
Russland 2021
Regie: Alexander Seldowitsch

Der klassische Medea-Stoff lässt sich bekanntermaßen auf vielfache Weise interpretieren. Pasolini hat seiner Verfilmung (mit Maria Callas) eine antikolonialistische Richtung gegeben, den Aspekt des Fremden betont.
In Alexander Seldowitschs Medea, einer zeitgenössischen Version, ist Jason ein kalter Erfolgstyp, dem seine Versprechungen gegenüber Medea nichts, die weitere Anhäufung seines Vermögens aber alles bedeuten. Während sich schließlich auch diese Medea zum finalen, schrecklichen Kindermord entschließt und auf eine entfernte Anhöhe zurückzieht, muss der stets auf großem Fuß lebende Jason Touristen um Kleingeld anbetteln, um durch das Fernrohr sehen zu können, was seine einstige Geliebte geplant und auch durchgeführt hat – ein brillanter Regieeinfall des Regisseurs, der sich auch zuvor nicht bemüht, Sympathien für seine Medea, Verständnis für deren Motivation zu erheischen. Diese Medea ist ihrem Jason (der im Film nicht so heißt) ebenbürtig, sie hat sich entschlossen, nicht Opfer, sondern Täterin zu sein, lange vor ihrer letzten, dann doch verzweifelten Tat.
Die Uhr, in der die Zeit rückwärts läuft (und somit alles wieder «im Lot» wäre), sucht Medea allerdings vergebens, da kann ihr auch ein alter, weiser Uhrmacher nicht helfen…

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