Das Bündnis zwischen Klimaaktivisten, Bäuerinnen und Beschäftigten in der Tierindustrie entwickelt sich nur mühsam
von Friedrich Kirsch*
Im Sommer vergangenen Jahres stand die Fleischindustrie plötzlich im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte: Ein Schlachthof nach dem anderen entwickelte sich zum Corona-Hotspot. Den traurigen Höhepunkt markierte im Juni der Ausbruch bei Tönnies mit 1413 infizierten Arbeiter:innen.
Für die Arbeiter:innen und deren Unterstützer:innen kam diese Entwicklung alles andere als überraschend. So schrieb Peter Kossen, der die Fleischkonzerne schon seit Jahren kritisiert, bereits im April 2020 in einem offenen Brief: «In der Corona-Pandemie habe ich zunehmend begründete Angst vor einer massenhaften Ansteckung der großen Gruppe ost- und südosteuropäischer Arbeitsmigranten.» Der katholische Gemeindepriester aus dem Bistum Münster bezeichnet die Zustände in der Fleischindustrie als «moderne Sklaverei».
Die Arbeiter:innen selbst stellten in den darauffolgenden Monaten immer wieder lautstark klar, dass sie die gegenwärtigen Bedingungen nicht länger dulden wollen. Mit Streiks, wilden wie auch gewerkschaftlich koordinierten, wehren sie sich zunehmend gegen ihre Ausbeutung. Auch verschiedene linke Gruppen starteten Aktionen in Solidarität mit den Arbeiter:innen.
Schlachthöfe besetzen
Vom 28. bis 31.Mai 2020 fanden überregional Solidaritätskundgebungen vor Fleischbetrieben sowie auf zentralen Plätzen statt. Zu den Aktionstagen hatte das Bündnis «Gemeinsam gegen die Tierindustrie» aufgerufen. Das Bündnis entstand 2019 auf einer Aktionskonferenz, an der vor allem Aktive der Klimagerechtigkeits- sowie der Tierbefreiungsbewegung, aber auch von Arbeitsrechts- und Bürgerinitiativen teilnahmen.
Das Ziel ist, der Tierindustrie gemeinsam etwas entgegenzusetzen – einer Industrie, die auf der systematischen Ausbeutung von Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern basiert; die indigenen Bevölkerungen und Kleinbäuerinnen und -bauern Land zur Futtermittelproduktion raubt; die für massives Tierleid und nicht zuletzt für enorme Mengen an Treibhausgasen verantwortlich ist. Zur Einordnung: Mindestens 60 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche in Deutschland dienen der Tierfütterung, über 80 Prozent der Emissionen aus der Ernährung gehen hierzulande auf den Konsum von Fleisch, Milch und Eiern zurück.
Die erste Aktion mit einer breiten öffentlichen Wahrnehmung gelang dem Bündnis am 4.Juli 2020. Aktivist:innen besetzten den Tönnies-Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück, der zu dem Zeitpunkt aufgrund einer staatlich verordneten Quarantäne stillstand. Die Aktion erlangte große Aufmerksamkeit und wurde national wie international von der Presse aufgegriffen. Sie sendete das deutliche Signal: Dieser Schlachthof gehört für immer geschlossen.
Annäherung an den Arbeitskampf
Die Forderungen des Bündnisses nach einem umfassenden Systemwandel wirken auf viele Arbeiter:innen und Landwirt:innen verständlicherweise beängstigend, sind sie doch trotz der miserablen Bedingungen gegenwärtig von eben diesem System abhängig. Aktive Annäherungsbemühungen sind daher unerlässlich.
Ein Beispiel dafür ist Hessens größter Geflügelschlachthof in Gudensberg bei Kassel. Dort schlachtet Plukon, der zweitgrößte Hühnerfleischkonzern der EU, etwa 130000 Tiere am Tag. Die miesen Arbeitsbedingungen sind seit Jahren bekannt. Seit Anfang letzten Jahres suchen Aktivist:innen den Kontakt vor Ort, verteilen mehrsprachige Flyer, hängen Schilder auf und halten auf Demonstrationen der Gewerkschaft NGG Redebeiträge, um ihre Solidarität zu zeigen.
Im Mai 2021 kam es dann auch an diesem Schlachthof zu einem Corona-Ausbruch. Als Arbeiter:innen von eklatanten Verstößen gegen den Infektionsschutz berichteten und die Behörden untätig blieben, nahmen Aktivist:innen die Stilllegung des Betriebs mit einer Blockade selbst in die Hand – und bekamen von vielen Arbeiter:innen vor Ort Zuspruch.
Mit dem Vorschlaghammer gegen Aktivist:innen
Nicht nur in bezug auf die Fleischbetriebe, sondern auch auf die Landwirtschaft steht das Bündnis gegen Tierindustrie für einen Systemwandel, der den Bäuerinnen, Bauern und Beschäftigten Perspektiven jenseits der Tierindustrie bietet. Dazu zählen die Forderungen nach einer Vergesellschaftung der Großkonzerne und einer umfassenden Bodenreform. Ein schneller Ausstieg aus der Tierindustrie könnte damit gerecht organisiert werden, meint das Bündnis. Das sei erforderlich angesichts der drohenden Überschreitung planetarer Grenzen.
Für viele Tierhalter:innen ist ihr Beruf allerdings nicht nur von großer ökonomischer, sondern auch von sozialer und kultureller Bedeutung. Deshalb fassen sie die Forderungen des Bündnisses bisweilen als persönliche Angriffe auf. Am Rande von Aktionen kommt es manchmal sogar zu Konfrontationen mit Landwirt:innen. Bei der Blockade eines Tönnies-Schlachthofs im November 2020 etwa riefen Landwirt:innen dazu auf, die angeketteten Aktivist:innen eigenhändig mit Vorschlaghammer zu entfernen – ohne Rücksicht auf mögliche Verletzungen.
Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Bäuerinnen und Bauern, die ihren Betrieb aufgeben – aus ökonomischen Zwängen, aber zunehmend auch aus Ablehnung der Tierindustrie. Die Herausforderung besteht darin, im Widerstand gegen die Konzerne und im Kampf für Gerechtigkeit gemeinsame Perspektiven zu finden.
Auch um den Austausch über diese gemeinsamen Perspektiven voranzubringen, hat das Bündnis «Gemeinsam gegen die Tierindustrie» im Juli dieses Jahres ein Protestcamp im Großraum Vechta organisiert. Dort liegt der Ballungsraum der deutschen Tierindustrie schlechthin.
Im Fokus des Protestcamps stand der größte deutsche Geflügelkonzern PHW (Marke Wiesenhof). Dieser zeigte sich schon im vorhinein beeindruckt. Er kaufte kurzfristig eine öffentliche Zufahrtsstraße zum Firmensitz und befestigte diese mit einem massiven Holztor. Und auch die Behörden blieben nicht untätig: Die Durchführung des Camps musste gegen den Widerstand der Versammlungsbehörde vor Gericht erstritten werden.
Auf dem sechstägigen Camp entstand schließlich ein Ort der Vernetzung der verschiedenen politischen Initiativen und der Anwohner:innen. Den Höhepunkt bildete eine Massenaktion am 15.Juli: Rund 200 Aktivist:innen zogen zu Fuß vom Camp los, überwanden eine Polizeisperre und blockierten die Konzernzentrale und das Futtermittelwerk für rund zehn Stunden.
*Der Autor ist Klimagerechtigkeitsaktivist und engagiert sich im Bündnis «Gemeinsam gegen die Tierindustrie».
Mehr Informationen unter: https://gemeinsam-gegen-die-tierindustrie.org/.
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