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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2021

Afghanistans Fluch ist seine geostrategische Lage und seine Armut an Agrarüberschüssen. Das prägt bis heute seine Geschichte und ­Entwicklung und erklärt den Einfluss des Islam
von Jonathan Neale*

Die Armut
Armut und Patriarchat sind der Nährboden für die Herrschaft des Islam
Afghanistan ist weitgehend unfruchtbar und öde, nur in wenigen Gegenden reichen die Niederschläge für den Ackerbau aus. Und nur an wenigen Stellen der Ebenen des Tieflands können die Bauern den Wasserreichtum der Flüsse nutzen.

In den Bergtälern entnehmen sie Wasser aus Flüssen, die nur zu bestimmten Jahreszeiten Wasser führen. Weiden können nur jahreszeitlich genutzt werden, und die Weidefläche ist nie ausreichend.

Auf dem Land herrscht die alte Feudalordnung. Die meisten Bauern bewirtschaften das Land als Pächter. In den weniger fruchtbaren Gebieten behalten die Grundbesitzer zwei Drittel der Ernte für sich, in den fruchtbaren Ebenen vier Fünftel. In jedem Fall bleibt dem Pächter nur so viel Getreide, damit er gerade seine Familie ernähren kann. Zu ähnlichen Bedingungen arbeiten Schäfer bei den nomadischen Herdenbesitzern: zwei oder drei von zwanzig Lämmern eines Jahres dürfen sie behalten. Einige Afghanen arbeiten auf Staatsfarmen, andere gegen Lohn während der Erntezeit, manche arbeiten auch als Lastenträger oder Bauarbeiter in der Stadt. Keine dieser Gruppen verdient mehr als ein Kleinpächter, ebenso wie die Kleinbauern in den Hochtälern.
Das am besten bewässerte Land gehört einigen wenigen hundert Großgrundbesitzern und ihren Familien, den Khanen. Oft gehört ihnen ein ganzes Dorf oder dessen größter Teil; noch häufiger besitzen sie Land in verschiedenen Dörfern. Sie sind die lokale Macht. Viele leben in Forts, sie behaupten ihr Land durch Gewalt. Selten gibt es eine effektive Kontrolle seitens der Zentralregierung.
Zwischen den Feudalherren und Anteilspächtern stehen die kleinen Bauern. Diese beschäftigen einen Pächter oder bearbeiten das Land selbst mit Hilfe ihrer Söhne. Vielleicht haben sie außerdem einen kleinen Laden oder einen Sohn im Staatsdienst. Ihre Zahl ist größer als die der Großgrundbesitzer, aber sie besitzen weniger Land. Wie die Pächter hassen sie die Großgrundbesitzer.

Jeder gegen jeden
Obwohl die verschiedenen ethnischen Gruppen die Armut gemeinsam haben, werden sie durch diese Armut getrennt. Das Land ist vergleichbar mit einem Flickenteppich aus den verschiedenen ethnischen Gruppen und Stämmen, wo jede Gruppe gegen die andere um Land und Wasser kämpft.
Im Hazarajat z.B., dem Zentralgebirge Afghanistans, sind die hohen Täler die Heimat der Shia Hazara, die noch höheren die der Ismaili Hazara. Die große Ebene von Bamian ist die Heimat der Tadschiken, eine iranische Sprache sprechende Sunniten, die die Hazara verdrängt oder geschluckt haben. Die höheren Weiden werden im Sommer von paschtunischen Nomaden genutzt, deren Vorfahren der Regierung vor einem Jahrhundert geholfen haben, dieses Land zu erobern. Jede Gruppe hasst und verachtet die andere, jede hat um Land gegen die andere gekämpft.
Fremden misstraut man, sie sind mögliche Feinde. Die Nachbarn und Verwandten machen sich gegenseitig das Land oder den Pachtvertrag streitig oder beneiden sich um die eine gesunde Ziege. Die Afghanen sind arm, und ihre Armut hat dazu geführt, dass sie sich unter der Führung ihrer Feudalherren vereinigten, um gegen andere Stämme und Völker Krieg zu führen.

Selbst der arme Mann hat noch eine Frau unter sich
Die Armen sind verbittert, sie hassen ihre Feudalherren. Sie sind aber kaum klassenbewusst. Und auch der arme Mann hat ein Interesse an diesem System: durch seine Frau und seine Töchter.
Die Frauen sind grausam unterdrückt. Sie stehen vor den Männern auf und gehen nach ihnen zu Bett, sie arbeiten ohne Pause. Ein Mann hat das Recht, seine Frau und seine Töchter zu schlagen, obwohl er es nur aus «gerechten» Gründen tun sollte. Die Männer schlagen ihre Frauen aus Eifersucht oder um Faulheit zu bestrafen, weil sie wütend oder neurotisch sind. Wenn Frauen vor oder in der Ehe Affären haben, dürfen sie von ihren Ehemännern oder Vätern ganz legal getötet werden. Die meisten dieser eigensinnigen Frauen werden natürlich nicht getötet, aber immerhin einige.
Eine Scheidung ist theoretisch möglich, kommt aber kaum vor, die Ehe dauert gewöhnlich ein Leben lang, eine Frau kann nicht bestimmen, wen sie heiratet. Sie wird gewöhnlich der Familie des Bräutigams für einen ansehnlichen Brautpreis verkauft, der zwischen einem und zehn Jahreslöhnen eines Arbeiters liegt. Von allen Frauen wird erwartet, sittsam zu sein, und von den meisten Frauen, dass sie ihr Gesicht vor Fremden verhüllen.
Die Frauen sind keine Frauenrechtlerinnen, sie sind afghanische Muslime. Aber sie wissen, dass sie unterdrückt werden. Sie hassen es, geschlagen zu werden. Ihre Affären decken sie gegenseitig, und sie nehmen sich Liebhaber trotz der dauernden Furcht vor dem Messer des Vaters.
Der afghanische Islam unterstützt dies ausnahmslos. Den Frauen sind die Moscheen verboten. Islam bedeutet Sittsamkeit für die Frauen und das Recht auf Seiten der Männer. Solch ein Islam spricht den armen Mann an.
Den armen Mann drücken nicht nur niedrige Löhne, geringe Ernteerträge und viel zu wenig Getreide, um seine Familie zu ernähren. Ihn bedrückt nicht nur die Tatsache, dass er Witwen versorgen muss, die ihm auf der Tasche liegen, und er ohnmächtig zusehen muss, wie seine Söhne an Tuberkulose sterben, weil er sich keine Medizin leisten kann. Ihn quälen nicht nur die Arroganz der Feudalherren und gelegentliche Gewalttätigkeiten der Polizei; er muss täglich mit der Schande und der Gefahr der Einsamkeit fertig werden.
Einsamkeit – weil ein armer Mann keine Familie haben kann. Der Brautpreis kann eine Heirat unmöglich machen oder sie bis ins mittlere Alter verschieben. Und wenn er einmal verheiratet ist, kann er durch die hohe Kindersterblichkeit alle Kinder verlieren. Ein reicher Mann ohne Kinder heiratet wieder; ein alter armer Mann ist verzweifelt.
Er kann von seiner Verwandtschaft verstoßen werden und kann nicht mehr seinen Lebensunterhalt verdienen. Vielleicht ist er gezwungen zu betteln. Bestenfalls wird er ein erniedrigter Schmarotzer in einem fremden Haus. Ein kinderloser Mann ist auch einsam.
Nur ein Mann mit Söhnen findet Liebe. Die Töchter heiraten weg, die Ehe ist eine spannungsgeladene und oft feindselige Beziehung. Ein Mann kann nur Söhne haben, wenn er eine Frau bekommen und auch unterhalten kann, und das ist immer ungewiss.

Der arme Mann isst seine Schande
Um eine afghanische Wendung zu gebrauchen: Der arme Mann isst seine Schande. Es ist keine Schande, arm zu sein, aber es ist eine Schande, Gäste nicht bewirten zu können, weil man arm ist. Es ist eine Schande, die Nachbarn um einen Sack Getreide zu bitten und zurückgewiesen zu werden. Und der arme Mann isst die Schande, weil er unfähig ist, seine Frau zu beaufsichtigen.
Die Gesellschaft als ganze wird zwar von einem strengen Sittenkodex bestimmt, die Macht eines Mannes über seine Frau ist aber immer unsicher. Und weil jeder Mann sich gegen den anderen wendet, haben Männer oft Affären mit den Frauen und Töchtern anderer Männer. Es ist zwar verboten, aber auch kühn, romantisch, aufregend und verletzt den Rivalen. Aus denselben Gründen haben Frauen Affären, weil es ihren Mann sehr verletzt.
Ein armer Mann kann dagegen nichts tun. Ein reicher kann den Liebhaber und seine Frau töten und wieder heiraten. Der Arme kann sich nicht vor Racheakten schützen. Er riskiert tagtäglich sein Leben bei der Arbeit und kann sich keine neue Frau leisten. Er kann nur Genugtuung verlangen oder die Affäre dulden oder so tun, als wüsste er von nichts…
Das Alltagsleben bringt genauso viel Schande wie der Ehebruch. Die Normen der Sittsamkeit werden von den Reichen gesetzt. Reiche leben in großen Häusern und können ihre Frauen abschirmen. Diener und Ehemänner erledigen alle Einkäufe, holen Wasser und kaufen sogar Tuch für die Herstellung der Kleider. Die Armen leben in Zelten oder Häusern mit nur einem Raum. Sie brauchen die Arbeitskraft ihrer Frauen und Kinder auf den Feldern und bei den Tieren. Ihre Not hindert sie, ihre Frauen abzuschirmen, und das ist schändlich für sie.
Aber obgleich der Arme wegen seiner Frauen nur Schande essen kann, unterstützt er die Regeln der Sittsamkeit. Denn gerade diese Regeln sind es, die die Herrschaft der Männer über die Frauen sichern, auch die des armen Mannes über seine Frau. Der Arme denkt nämlich, ohne diese Vorschriften der Sittsamkeit und der Tötungsandrohung würde seine Frau mit jemand anderem weglaufen oder seine Tochter ohne Brautpreis heiraten, und das befürchtet er zurecht.
Diese Furcht hindert ihn auch dar­an zu begreifen, was eine Änderung bedeuten könnte. Also unterstützt er die ganze Ideologie der Schande, die um seinen Hals wie ein Mühlstein hängt und ihn herunterzieht, bis sein Gesicht im Dreck liegt. Weil der Arme keinen Ausweg sieht, denkt er: Wenn nur alle Frauen sittsam wären, wenn nur alle abgeschirmt werden könnten, wenn nur die anderen Männer die Anstandsregeln beachten würden, dann würde der arme Mann nicht seine Schande erdulden müssen. Genau dies verspricht der Islam. Im reinen Islam ist es nicht die Aufgabe des Gehörnten, die Frau und den Liebhaber zu töten, es ist die Aufgabe der ganzen Gemeinschaft, sie beide zu steinigen, seien sie reich oder arm.
Im afghanischen Islam steckt Wut. Die Wut ist begründet in der Schande, für die es keine Abhilfe gibt. Der Islam drückt die Wut der Armen aus, kann diese Wut aber nicht besänftigen. Der Islam propagiert ein Ideal, bietet aber in Wirklichkeit nur immer strengere und beschämendere Regeln an. Er bietet einem hart unterdrückten Volk keine Erlösung an außer ­einer: den heiligen Krieg.

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Der Staat

Armut ist ein Herrschaftsmittel – besonders für imperiale Mächte
Die geografische und klimatische Beschaffenheit des Landes bedingt auch seine politische Entwicklung. Ein Paradigma dafür ist die Staatsgründung und der erste Einfall einer Kolonialmacht, der Briten – dieses Muster hat sich seitdem ständig wiederholt.
Afghanistan hat eine lange Geschichte der heiligen Kriege. In den vergangenen zwei Jahrhunderten diente diese Tradition dazu, den Widerstand gegen den lmperialismus an die eigene reaktionäre Klasse zu binden. Wie dies geschah, zeigen beispielhaft die ersten hundert Jahre des neuzeitlichen Afghanistan.
Das neuzeitliche Königreich Afghanistan wurde 1747 gegründet. In jenem Jahr wählten die durranischen Paschtun-Herren den Abenteurer Schah Ahmed zu ihrem König. Er kontrollierte Kandahar, Herat und Kabul. Die durranischen Herren folgten dem König und stellten ihm Truppen, für die er sie mit Land und Geld entschädigte.
Die Herren waren völlig unabhängig in ihren eigenen Gebieten. Schah Ahmed erkaufte sich ihre Treue mit den Reichtümern aus seinen Eroberungen: den fruchtbaren Ebenen von Peschawar und Sindh und des saftigen Tals von Kaschmir.
Jeder König nach Schah Ahmed benötigte einen solchen Überschuss, denn jeder musste eine Armee versorgen, sie bezahlen und ausrüsten. Ohne die Armee oder die Khane gab es keinen Staat. Und ohne Geld gab es keine Waffen, keine Armee, keine Khane. Der König konnte nie genügend Steuern in Afghanistan selbst erheben, denn das hätte einen Angriff auf die Khane bedeutet. Die Zollabgaben und Steuern der eroberten Ebenen trugen den afghanischen Staat.
Mit dem Niedergang des Handels gingen die Zollabgaben zurück. Eine Folge von Kriegen der verschiedenen Herrscherhäuser riss das Reich aus­einander. Durch die wachsende Macht der Sikhs im Punjab gingen Kaschmir und Peschawar verloren, die Emire von Sindh erklärten ihre Unabhängigkeit.
Als schließlich der Emir Dost Moham­mad der alleinige Herrscher von Kabul und Kandahar wurde, war er dennoch nicht in der Lage, das Land wirklich zu regieren. Ohne wenigstens die Kontrolle über Peschawar zu haben, konnte er nie über genügend Überschüsse verfügen, um das Land zu halten. Er bat die Briten in Indien, ihm zu helfen, Peschawar zurückzuerobern. Aus Furcht vor den Sikhs weigerten sich die Briten. Als er sich an die Russen wandte, gerieten sie in Panik.

Hilfe vom Ausland?
1838 fielen sie in Afghanistan ein. Ein führender König wurde ihr Marionettenherrscher. Die meisten Khane, und besonders die durranischen Khane, waren dem Emir Dost Mohammad feindlich gesinnt, denn als die Abgaben aus dem Ausland ausblieben, hatte er ihre Steuern erhöht. Jeder Widerstand gegen die Briten hingegen verschwand, als diese alle wichtigen afghanischen Khane mit Gold beschenkten. Die Armee des Emirs desertierte. Die Invasion war ein Spaziergang.
Die Afghanen waren nicht von Anfang an gegen die Briten. Das waren sie erst, als die East India Company feststellte, dass sie, um Afghanistan zu halten, mehr an Unterstützung zahlen müsste, als sie Einnahmen aus dem Land ziehen konnte, und deshalb die Zahlungen an die Grenzstämme und die Khane kürzte. Die Grenzstämme sperrten die Pässe, und die Khane wandten sich von den Briten ab.
Noch wichtiger war, dass die Briten eine große Armee mit entsprechendem Tross nach Kabul und Kandahar gebracht hatten. Sie verschlang einen großen Teil des ohnehin spärlichen Überschusses des Landes an Getreide. Der Brotpreis kletterte auf das Doppelte. Das nützte zwar den Khanen, schürte aber bei den städtischen Massen Verzweiflung und Hass auf die Briten.
Die Khane intrigierten, die Grenzstämme plünderten, die städtischen Massen wurden aufrührerisch. Der Widerstand begann sich zu einem heiligen Krieg zu vereinigen. Da die Feudalherren unglaubwürdig waren und die Stämme und Nationen sich von jeher in den Haaren lagen, konnte der Widerstand sich nur unter dem Banner des Islam formieren. Die britische Armee von 20000 Mann wurde bis auf kleine Reste vernichtet, die sich aus Kabul zurückzogen.
Nach dem Abzug der Briten löste sich der afghanische Widerstand auf, aber die Erinnerung an ihn blieb zurück und wurde zum Beginn der Tradition des volkstümlichen muslimischen Widerstands. Obwohl die Afghanen sich nicht automatisch den Briten widersetzt und sich größtenteils aus wirtschaftlichen Gründen gegen sie gewandt hatten, hatten sie sie als Ungläubige bekämpft.

Das koloniale Erbe
1893 zogen die Briten eine Grenzlinie zwischen Britisch-Indien (heute Pakistan) und dem heutigen Afghanistan, bekannt als Durand-Linie; sie bildet im großen und ganzen bis heute die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan und geht mitten durch das Siedlungsgebiet der Paschtunen. Damit schufen sie ein Armenhaus, das nicht genug landwirtschaftliche Überschüsse zu erzeugen vermochte, um aus eigener Kraft ein Staatswesen aufzubauen, das die Macht der Feudalaristokratie hätte brechen können. Damit sorgten sie auch dafür, dass Afgha­nistan am Tropf ausländischer Hilfsgelder hängen blieb und dauerhaft zum Spielball der Großmächte wurde.
Im 19.Jahrhundert waren dies vor allem Briten und Russen. 1878 marschierten die Briten noch einmal in Afghanistan ein, wurden zwar militärisch geschlagen, erhielten sich aber Einfluss durch großzügige finanzielle Unterstützung des neuen Königs.
Nach dem Ersten Weltkrieg mussten sie Afghanistan in die Unabhängigkeit entlassen, stellten nun aber auch die Zahlungen der Hilfsgelder ein, und der afghanische Staat begann sich aufzulösen. Denn ohne Hilfsgelder hatte der König mit dem alten Problem der afghanischen Herrscher zu kämpfen: Wie die Khane besänftigen und die Truppen bezahlen? Er erhob Steuern, was dazu führte, dass die meisten Bauern und Herren sich zusammenschlossen und sich gegen ihn erhoben.
Ende der 1920er Jahre versuchte König Amanullah erstmals, das Land nach dem Vorbild Kemal Atatürks in der Türkei zu modernisieren, das Erziehungswesen auszudehnen, westliche Kleidung einzuführen und sogar den Schleier abzuschaffen.
Letzteres löste eine Revolte der Dorfbewohner aus, angeführt von den Mullahs; sie widersetzten sich den Steuereintreibern, und der König kam mit den Soldzahlungen für seine Armee in Verzug. Ein Bandit aus den Bergen stürmte die Hauptstadt, die von den unbezahlten Truppen nicht mehr verteidigt wurde. Er konnte sich nicht lange halten; der General, der auf ihn folgte, stand erneut in britischem Sold.
Die Blütezeit des afghanischen Staates kam mit dem Kalten Krieg. Da konnte sich das Land als neutral erklären und Hilfsgelder von beiden Seiten einstreichen. In dieser Zeit wurde Schulunterrricht kostenlos, sodass auch Söhne kleiner selbständiger Bauern zur Schule gehen und in den Staatsdienst aufsteigen konnten. So rekrutierte der Staat ein Heer an (schlecht bezahlten) Beamten, Lehrern, Offizieren, die zugleich mit einer umfassenden Korruption konfrontiert waren und den Staat dafür hassten.

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Die ‹Kommunisten›
Das Scheitern einer ‹Revolution von oben›

Die Kommunisten sind ein Produkt der Staatsbildung. Die «kommunistische» Demokratische Volkspartei Afghanistans (PDPA) hatte ihren Ursprung in der Studentenbewegung und in dem vom Staat abhängigen Kleinbürgertum. In den 60er und 70er Jahren waren sie zumeist in politischen Zirkeln organisiert. Einige gingen auch aufs Land, sprachen mit den Bauern und forderten öffentlich den Tod des Khans. Die Bauern hörten ihnen zu, fühlten sich zu ihnen hingezogen, hatten aber Angst, sich ihnen öffentlich anzuschließen, wenn auch viele insgeheim großen Anteil an ihrem Kampf nahmen.
Die Mullahs mobilisierten die Rechten gegen sie, indem sie behaupteten, sie seien keine Muslime. Das stimmte häufig nicht, nur wenige waren Atheisten. Doch die Studenten vertraten eine Auslegung des Islam, die die Macht der Mullahs bedrohte. Sie bedrohte aber auch die Werte, nach denen die meisten afghanischen Bauern lebten. Die Studenten sahen in der Ideologie der Mullahs ihren Feind und in der Bildung das Mittel, die Macht dieser Ideologie aufzubrechen. Damit griffen sie jedoch die feudale Ordnung an. So wurden sie auf dem Land fast überall verjagt, während sie sich in den Städten halten konnten.
Es hätte der Entwicklung eines Kapitalismus bedurft, um diese Ideologie zu brechen. Aber das feudale Regime hemmte jede Entwicklung. Und im Unterschied zu Pakisten und dem Iran gab und gibt es in Afghanistan kaum eine Arbeiterklasse.
Die Kommunisten arbeiteten danach konspirativ in der Armee, allerdings versuchten sie nicht die armen Wehrpflichtigen, sondern die Offiziere zu gewinnen. Sie versuchten einen Weg «von oben». Als die Regierung Daud die PDPA im April 1978 zu beseitigen suchte, putschten sie – und gewannen. Sie verkündeten eine Landreform, bei der alles Land über sechs Hektar an die Armen verteilt werden sollte; sie reduzierten den Brautpreis und ordneten Schulbildung für Mädchen an.
Doch ihr Regime hatte keine Chance, weil sie durch die Offiziere und hinter dem Rücken der Bauern an die Macht gekommen waren, nicht durch die einfachen Soldaten. Sie hatten nicht von der gesellschaftlichen Basis aus gearbeitet, sondern hatten den Staat erobert und versucht, von oben herab zu wirken. Auf dem Land brachen Aufstände aus und die Bauern verbündeten sich mit den Feudalherren, um den Zentralstaat loszuwerden, weil sie nicht das Gefühl hatten, den Staat gewonnen zu haben.
Dann versuchte die Partei es mit Repression – Polizei, Spione, Gefängnisse, Folterkammern, Erschießungen. Ihr Staat wurde seinen Vorläufern immer ähnlicher. Schließlich schickte sie Panzer und Flugzeuge mit Bomben – und als auch das nicht half, kamen sowjetische Soldaten, mit dem bekannten Ergebnis.

*Jonathan Neale wurde in New York geboren, wuchs in Indien und Texas auf und lebt in England. Er hat in den 70er Jahren anthropologische Forschungen unter Nomaden in Afghanistan betrieben, den Atlantik in einem Boot überquert, mehrere Jahre als AIDS-Berater gearbeitet, hat eine Doktorarbeit über Meutereien auf britischen Schiffen im 18.Jahrhundert verfasst und gehörte zum Organisationskomitee der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua im Jahr 2001.

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