Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Europa 1. November 2021

Italiens Justiz verfolgt ein erfolgreiches Modell der Flüchtlingshilfe
von Angela Klein

Während die Mafia frei herumläuft, soll ein Bürgermeister aus Kalabrien in den Knast – weil er gezeigt hat, dass man Flüchtlingen helfen und verlassene Dörfer wieder aufbauen kann.

Riace ist eine Gemeinde in Kalabrien. Hier herrscht die N’drangheta, wie die kalabrische Ausprägung der Mafia heißt – die gewalttätigste und brutalste. Sie hat alle Ebenen von Regierung unterwandert, vor allem die rechten und rechtsextremen Parteien – Berlusconis Forza Italia, Fratelli d’Italia, die Lega.
Dieser Clan darf relativ ungestört seinen kriminellen Geschäften nachgehen. Nicht so Domenico Luciano, genannt «Mimmo». Mimmo war 14 Jahre lang Bürgermeister von Riace, von 2004 bis 2018. Das Gericht hat ihn Ende September zu 13 Jahren und 2 Monaten Haft verurteilt – wegen «krimineller Vereinigung», Amtsmissbrauch und Veruntreuung von 5 Millionen Euro, alles im Rahmen der Migrantenbetreuung. Er habe Scheinehen zum Erschleichen von Aufenthaltsberechtigungen arrangiert. Er habe einen Auftrag zur Abfallentsorgung nicht ordnungsgemäß vergeben – die Abfallentsorgung in Riace wird unter anderem mit Maultieren erledigt. Er habe außerdem 500000 Euro unterschlagen und soll diesen Betrag zurückzahlen.
Das Urteil ist doppelt so hart ausgefallen wie die Strafe, die der Staatsanwalt verlang hatte (7 Jahre und 11 Monate). Für Sinistra Anticapitalista ist das Klassenjustiz – die Rache einer Rechten und extremen Rechten, denen ein funktionierendes Modell einer Asylpolitik, die Flüchtlinge willkommen heißt und erfolgreich in die Gesellschaft eingliedert, ein Dorn im Auge ist.
Vor Mimmos Zeit als Bürgermeister war Riace eins der vielen aussterbenden Dörfer Süditaliens, aus denen die Jugend flieht, weil es hier keine Arbeit und keine Perspektive gibt. Es begann mit 300 Kurdinnen und Kurden. Mimmo wies sie in verlassene Häuser der Altstadt ein und zeigte ihnen Arbeitsmöglichkeiten auf. Auf diese Weise entstanden Dutzende kleiner Werkstätten, die Gebrauchsgüter des alltäglichen Bedarfs herstellen: Töpferwaren, Textilien, Lebensmittel. Er setzte damit eine Kreislaufwirtschaft in Gang, die die Gemeinde wieder mit Leben erfüllt hat: die Zahl der Schulkinder ist wieder gestiegen, Lehrer und Sozialarbeiter kommen wieder aus dem Ort, es gibt eine kleine Manufaktur von Ginsterkörben, die Hausbewohner können wieder Miete zahlen und Hausbesitzer ihre verfallenden Häuser instandsetzen. Es gibt Gemeindehäuser und ein Restaurant.
Das Innenministerium in Rom hat das Experiment mit 24 Euro pro Migrant und Monat unterstützt.
Nicht allen in Riace hat das gefallen, es hat Schusswechsel gegeben, deren Spuren noch sichtbar sind. Das Experiment hat aber auch landesweit Aufsehen erregt, ganze Schulklassen pilgerten hierher, das Dorf wurde eine Touristenattraktion. Vor allem aber bildet es einen schreienden Widerspruch zu den Gemeinden, die von der Rechten verwaltet werden: Hier wird die Macht über die politische Exekutive so schamlos zur Plünderung des öffentlichen Eigentums missbraucht, dass es nicht mehr alle eine Wasserversorgung haben, die Abfälle nicht entsorgt werden, eine öffentliche Gesundheitsversorgung und Pflege kaum noch existieren, ebensowenig eine öffentliche Verkehrsinfrastruktur; die Schulen verfallen.
Mimmo wurde zuerst vorgeworfen, er habe sich bereichert. Als das nicht mehr haltbar war – der Mann lebt in einfachsten Verhältnissen, seine Frau arbeitet als Putzfrau –, wurde ihm vorgehalten, er habe das alles nur getan, um Stimmen zu fangen. Man darf gespannt sein, wie das Gericht sein Urteil begründet. Dann wird wahrscheinlich noch deutlicher werden, dass es sich hier in Wahrheit um einen politischen Prozess handelt.
Während Mimmo dafür büßen soll, dass er Gutes getan hat, darf Berlusconi, der ganz offiziell wegen Betrugs verurteilt ist, als «Gemeindearbeiter» in Altenheimen frei herumlaufen und hat keinen einzigen Tag im Gefängnis gesessen. Und viele seiner Finanzskandale sind nicht einmal vor Gericht gekommen, sie wurden vorher schon niedergeschlagen.
Mimmo geht in Berufung. Da er aber arm ist wie eine Kirchenmaus, hat sich landesweit eine breite Gemeinde gefunden, die für ihn sammelt und für seinen Freispruch trommelt. Solidarität muss auch aus dem Ausland kommen: Freiheit für Mimmo!

Eine Spendenkampagne unter:
www.change.org/p/domenico-lucano-mimmo-siamo-con-te/sponsors/new?source_location=combo_psf&psf_variant=combo.

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