Die Massenproteste gegen Macrons Corona-Politik und die Defizite des politischen Systems
von Sebastian Chwala
Seit Wochen gehen zehntausende Menschen gegen Macrons harte Corona-Regeln auf die Straße. Es ist eine regelrechte Protestwelle gegen den Staatspräsidenten, dessen Amtszeit im nächsten Jahr endet. Sie ist im Geiste eng mit der Gelbwestenbewegung verwandt, die seit November 2018 existiert und den autoritären und unsozialen Umbau der französischen Republik anprangert.
Seit März 2020 waren die Gelbwesten, auch aufgrund der ersten Anti-Covid-Maßnahmen, vollständig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Doch Mitte Oktober dieses Jahres meldete sich die Bewegung mit der Besetzung mehrerer dutzend Kreisverkehre sichtbar zurück. Grund sind die trotz Corona steigenden Lebenshaltungskosten und der unvermindert fortgesetzte Sozialabbau der Regierung Macron. Trotz Pandemie ist z.B. die Zahl der Intensivbetten gesunken; Macrons Corona-Strategie weckt daher Zweifel.
Für die zur Zeit demonstrierenden Impfgegner:innen, die auch den streng kontrollierten «Gesundheitspass» ablehnen, spielt die soziale Dimension allerdings eine geringe Rolle. Sie befürchten eher eine massive dauerhafte Einschränkung von Freiheitsrechten. Sie sehen in den Maßnahmen eine Infragestellung der körperlichen Selbstbestimmung und befürchten den Einstieg in eine staatliche, digitalisierte Totalüberwachung, die gesellschaftlichen Widerstand dauerhaft erschwert.
Die Gewerkschaften, die die Proteste zögerlich unterstützen, befürchten wiederum, dass jenen, die sich an die Maßnahmen nicht halten, die Suspendierung vom Arbeitsplatz oder Entlassungen – und damit Einkommensverluste drohen. Wie kontraproduktiv die Maßnahmen tatsächlich sind, zeigte sich kurz nach Inkrafttreten der Sanktionsspirale, als mehrere Kliniken Notfallpläne aktivieren mussten, weil jeder Verlust von Beschäftigten das chronisch unterfinanzierte französische Gesundheitssystem an den Rande des Zusammenbruchs führt.
Wie in Deutschland sank während der Pandemie die Zahl der verfügbaren Intensivbetten weiter, das kratzte an der Wahrhaftigkeit der Erzählung, Macron und sein Gesundheitsminister Olivier Veran seien um die Gesundheit der Bevölkerung besorgt. Aufhorchen ließ auch, dass sämtliche Impftermine über ein privates Start-up-Unternehmen organisiert wurden. Die Vorstellung, dass wirtschaftliche Interessen hinter dem Pandemiemanagement stehen könnten, hat die ablehnende Haltung besonders bei jenen, die seit dem 12.Juli (dem Tag der Verkündung der Maßnahmen) dagegen auf die Straße gehen, erheblich verstärkt.
Die antimuslimische Karte
In den Wochen und Monaten vor dem 12.Juli gingen die Menschen wegen anderer Dinge auf die Straße. Phasenweise demonstrierten etwa Hunderttausende gegen ein neues Polizeigesetz. Zahlreiche Überwachungsmaßnahmen, die im März und April vergangenen Jahres in großem Umfang zur Kontrolle der Ausgangssperren eingesetzt wurden, sollten damit nachträglich legitimiert werden. Zudem sollte es verboten sein, Polizisten im Einsatz zu fotografieren. Große Teile des Gesetzes scheiterten aufgrund der Proteste anschließend in der gerichtlichen Auseinandersetzung, stehen aber weiter auf der Agenda Macrons.
Auf Empörung stieß auch Macrons Strategie, rechtzeitig vor dem beginnenden Wahlkampf die antimuslimische Karte zu ziehen – was durch die Ermordung des Lehrers Samuel Paty* noch erleichtert wurde. Ein Gesetz wurde verabschiedet, das sich gegen «gesellschaftlichen Separatismus» wendet; Vereine und Gruppen, die sich angeblich gegen die französischen Werte wenden, lassen sich damit leichter verbieten. Es richtete sich in erster Linie gegen muslimische Kulturvereine.
Mit dem Vorwurf des «Islamo-Gauchisme» wird seit dem Frühjahr 2021 eine vermeintliche Verbrüderung zwischen der politischen Linken und dem radikalen Islam postuliert und der Linken vorgeworfen, sie übersehe die Gefahr muslimischer Parallelgesellschaften. Tatsächlich wollen die Anhänger der Rechten und Macron nicht über die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen durch die Pandemie diskutieren, sondern mit identitätspolitischen Debatten einen weiteren Keil in die politische Linke treiben, die in Frankreich traditionell stark laizistisch und religionskritisch ausgerichtet ist.
Politische Ausgrenzung der unteren Klassen
Die Ergebnisse der Regional- und Départementswahlen haben allerdings gezeigt, dass jene politischen Kräfte, die am stärksten mit Ressentiments spielen, die größten Niederlagen erlitten haben. Macrons Partei LREM erzielte kaum zweistellige Werte und die Stimmanteile des ultrarechten Rassemblement National von Marine Le Pen halbierten sich. Mit einer Wahlbeteiligung von deutlich unter 50 Prozent wurde ein nie dagewesener Tiefpunkt erreicht. Diese Entfremdung zwischen Politik und Bürger:innen erklärt im Kern den Erfolg der Gelbwesten. Die V.Republik mit ihrer rein auf den Präsidenten zugeschnittenen politischen Verfassung schließt unzufriedene Gruppierungen fast völlig von der politischen Debatte aus.
Einerseits sind Staatspräsident und Regierung so gut wie nicht an Entscheidungen der gewählten parlamentarischen Gremien gebunden. Andererseits sind diese Gremien so zugeschnitten, dass kleine und minoritäre Gruppen wegen des Mehrheitswahlsystems kaum eine Chance haben, in die Nationalversammlung einzuziehen. Macrons Partei LREM konnte bei der letzten Wahl mit knapp 35 Prozent der Stimmen eine überwältigende Mehrheit der Sitze erringen.
Diese Strukturen spiegeln eine Stabilität vor, die jedoch wegen mangelnder Perspektiven und Existenzängste längst nicht mehr gegeben ist. Insbesondere Arbeiter:innen, aber auch die traditionellen Mittelklasse werden nicht mehr vertreten. Das französische Parlament wird von Unternehmern und Managern dominiert, selbst der Anteil der Jurist:innen und Ärzt:innen ist gesunken. Arbeiter:innen finden sich darin überhaupt nicht mehr.
Ein Gegenmodell
Da selbst Linke und Gewerkschaften den Kontakt zu den Arbeiter:innen mehr und mehr verloren haben (gerade noch 11 Prozent aller Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert), verwundert es nicht, dass die Gelbwestenbewegung das politische Establishment vollständig ablehnt.
Ihre Unklarheit darüber, auf welcher Seite sie steht, hat allerdings auch bei linken Organisationen zu Unklarheiten geführt. Hört man ein wenig in die Bewegung hinein, sind die relevanten Fragen ohnehin andere.
Für die Gelbwesten macht sich der Erfolg politischer Reformen in erster Linie an konkreten Ergebnissen fest, die nur über eine vollständige Bürger:innenbeteiligung erzielt werden können. Die V.Republik müsse daher ersetzt werden durch ein partizipatives Modell, das keine Berufspolitiker:innen mehr kennt. An deren Stelle sollen Menschen mit solider gesellschaftlicher Verankerung treten. Neben einer beständiger Legitimierung aller Entscheidungen durch die gesellschaftliche Basis müsse auch eine ständige Rotation an der Spitze stattfinden, um keine Machtkonzentration zuzulassen. An die Stelle der überhierarchisierten V.Republik, müsse eine politisch egalitäre V.Republik treten, in der Regierende und Regierte beinahe identisch sind.
Die Rückkehr der Gelbwesten dieser Tage stärkt nicht nur die notwendige Debatte über die französische Demokratie. Sie ergänzt auch die notwendige Gegenwehr gegen die noch in diesem Jahr geplanten, verheerenden «Reformen» der Arbeitslosenversicherung und der Renten, nachdem die linken Gewerkschaftsverbände schon am 5.Oktober zu einem Aktionstag aufgerufen hatten.
Die erste Reform ist jetzt in Kraft getreten und dürfte Hunderttausende um ihr Anrecht auf Leistungen prellen, während die Höhe der Leistungen für alle übrigen Betroffenen sinkt. Das Renteneintrittsalter soll auf 67 Jahre angehoben werden – schließlich müsse ja gespart und härter gearbeitet werden, um die Krisenkosten zu finanzieren, heißt es von Regierungsseite.
Der Autor ist Politikwissenschaftler und lebt in Marburg.
*Der Lehrer Samuel Paty wurde am 16.Oktober 2020 enthauptet, nachdem er im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte.
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