Der Grüne Pass schürt die Spaltung unter den Beschäftigten
dokumentiert
Beim Angriff auf das Gewerkschaftshaus waren die Faschisten nur zwei Dutzend, aber die Demonstration hatte keinen inneren Zusammenhalt.
Im Gegensatz zu den Verlautbarungen des staatlichen Antifaschismus wiesen die No-Green-Pass- und No-Vax-Proteste am 9.Oktober in Rom zwei Aspekte auf, die nicht zusammen passen: den neofaschistischen Angriff auf das CGIL-Hauptquartier und die große Menge der Demonstrierenden.
Der nachfolgende Text ist eine Auszug aus einer Stellungnahme der Tendenza Internazionalista Rivoluzionaria (TIR)*.
Offensichtlich war der Anschlag vorbereitet worden, mutmaßlich von Forza Nuova. Doch das entscheidende, neue Element war, dass der Sitz der CGIL angegriffen wurde und nicht der des Unternehmerverbands Confindustria oder der Regierung, die den «grünen Pass» wollten und durchgesetzt haben.
Die Arbeitenden wie auch die Mitglieder der drei Hauptgewerkschaften CGIL, CISL und UIL sind gespalten: Die überwiegende Mehrheit stimmt dem Impfprogramm zu. Mit dem Grünen Pass will die Regierung die nicht geimpften Beschäftigten drängen sich impfen zu lassen, damit jedes Hindernis für den «Aufschwung» beiseite geräumt wird. Damit wird eine Spaltung zwischen geimpften und nicht geimpften Beschäftigten geschürt und den Bossen auch die Macht an die Hand gegeben, Beschäftigte aus «gesundheitlichen» Gründen zu entlassen. Forza Nuova hat sich diese Spaltung zunutze gemacht und vertieft.
Rechtsextreme Gruppen wie Forza Nuova, Casa Pound und andere wollen eine gemeinsame Basis finden, um gesellschaftliche und auch proletarische Schichten, die durch die globale Krise ihren Zusammenhalt verlieren, mit Zukunftsängsten und Ressentiments gegenüber denen zu füttern, die sie seit langem im Stich gelassen und verraten haben – damit wollen sie diese Teile der Arbeiterschaft in eine reaktionäre Richtung drängen.
Der Vorwurf des «Ausverkaufs» an die CGIL-Führung klingt aus dem Mund der führenden Köpfe dieser Gruppen seltsam, hat aber genau den Sinn, den «Kommunismus» und gewerkschaftliche Organisation als solche zu diskreditieren, um Klassenbewusstsein durch völkisches Denken zu ersetzen.
Nicht erst seit heute trägt der Faschismus ein «soziales» Gewand. Die «Goldene Morgenröte» [in Griechenland] ist mit der Verteilung von Mahlzeiten an Bedürftige groß geworden. In Rom und in anderen Städten hat die extreme Rechte die weit verbreitete Unzufriedenheit aufgefangen, die die kapitalistische Bewältigung der Pandemie zuerst bei Gastwirten und Ladenbesitzern, dann bei proletarischen Schichten hervorgerufen hat.
Mit dem Angriff auf das Hauptquartier der CGIL haben Forza Nuova & Co. für Aufsehen gesorgt und sich als die wahren Gegenspieler des Staates und als Katalysatoren der sozialen Unruhen präsentiert – nicht zufällig zwei Tage vor dem großen Streik der Basisgewerkschaften, der von den Medien totgeschwiegen wurde.
Die Zusammensetzung der Demonstrationen
Der Angriff auf die CGIL (Angriffe auf das Parlament und den Sitz des Ministerpräsidenten hat es nicht gegeben) war das Werk einer sehr einflussreichen Minderheit unter den Demonstrierenden. Die überwiegende Mehrheit der Demonstrierenden bewegte sich in Richtung Zentrum, wo sich die Paläste der politischen Macht befinden. Um sie zu stürmen? Nein, um gehört zu werden, wie sie sagten.
Die Menschenmenge, die da demonstrierte, war bunt zusammengewürfelt und hatte keinen inneren Zusammenhang. Das war auf der Demonstration in Mailand am selben Tag gleichfalls zu beobachten: Die Demonstration änderte mehrmals ihre Route, hatte keine wirkliche Leitung, kein wirkliches Ziel.
Man kann nicht umhin festzustellen, dass die Proteste der letzten Wochen sich nicht nur zahlenmäßig, sondern auch in sozialer und politischer Hinsicht von den Mobilisierungen vor einigen Monaten unterscheiden. Den Unterschied macht die Pflicht zum Grünen Pass auf dem Weg zur Arbeit, die seit Mitte Oktober in Kraft ist.
Der Grüne Pass wird als Machtmissbrauch und Erpressung empfunden, insbesondere von den drei Millionen ungeimpften Werktätigen. Um sich davor zu schützen, klopfen sie an die Tür der Basisgewerkschaften. Es ist kein Zufall, dass es bei Elektrolux in Susegana, bei San Benedetto in Scorzè und anderswo Streiks gegen den Grünen Pass gab, die von oppositionellen Strukturen in der CGIL oder von den Basisgewerkschaften ausgerufen wurden.
Die Veränderung der sozialen Zusammensetzung hat auch die politische Stimmung verändert. Einige Monate lang waren die No-Vax-Plätze fast durchgängig von rechten Gruppen dominiert und von einem Gebräu aus Individualismus, Verschwörungstheorien und Irrationalismus durchdrungen. Damals haben wir gesagt: Das sind nicht unsere Plätze.
Auf den No-Green-Pass-Plätzen hat nun die Zahl von Arbeitern deutlich zugenommen. Das ist an sich noch keine Garantie für eine Klassenorientierung. Wenn wir aber Materialisten sind und soziale Klassen als konkrete, widersprüchliche Gebilde und nicht nur als Idealbilder behandeln, können wir uns nicht damit zufrieden geben, die No-Vax-Demonstrationen, und noch weniger die No-Green Pass-Demonstrationen bloß als reaktionäres Geschrei abzutun. Es stellt sich die Frage, warum sich eine gewisse Anzahl von Proletariern davon angezogen fühlt und ob wir kommunistischen Revolutionäre ihnen auch etwas zu sagen haben.
Die falsche Einheitsfront
Uns scheint, dass uns die Botschaft der Proletarier, die sich in den letzten Monaten spontan auf diesen Plätzen versammelt haben, etwas angeht. Erstens handelt es sich um Teile der Klasse, auf die wir uns beziehen, die erschöpft, desorientiert und verzweifelt sind. Zweitens beunruhigt uns die Tatsache, dass sich unter ihnen die Vorstellung verbreitet, etwas Schreckliches und Radikales komme von oben, von den Großmächten, die die Welt regieren, und greife unser Leben, unsere Freiheit und Würde an. Wer ein solches Gefühl als reaktionär abstempelt, nur weil es sich fast nahtlos in die Sprechweise von Verschwörungstheoretikern einpasst, der erweist sich damit nicht im Besitz des «reinen Klassenbewusstseins», sondern als erschreckend ignorant gegenüber dem realen Verlauf der historischen Krise der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise. Es zeugt von einer «aristokratischen» Abscheu gegenüber den am stärksten Unterdrückten und kulturell Benachteiligten, wie sie etwa die Zeitung Il Manifesto kundtat, als sie die Demonstrierenden in Bausch und Bogen als «Unrat» qualifizierte.
30000 Menschen, alles Unrat? Und die Gesunden wären dann die, die mit der Gewerkschaftsführung, dem Staatspräsidenten, mit Draghi, Renzi, der Demokratischen Partei (PD), dem Unternehmerverband, Forza Italia, den Fünf Sternen… und selbst Fratelli d’Italia und umlackierten Ex-Faschisten in der allerbreitesten «antifaschistischen» Front mitgelaufen wären?
Eine schöne Einheitsfront ist das, wo Kapitalisten und bürgerliche Parteien Arm in Arm mit «Vertretern» der Arbeiterklasse demonstrieren, im Namen der angeblich maximalen Gefahr, die von neofaschistischen Gruppen ausgeht. Merkwürdig, wie viele auf der radikalen Linken sich eilfertig zu einem «antifaschisten Pakt» bekannt haben, der ganz und gar gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist und Wasser auf die Mühlen der «nationalen Befriedung» und «nationalen Einheit» gießt, zu der sich die Regierung Draghi gerade aufschwingt und die inzwischen selbst Salvini von der Lega fordert.
Ein Antifaschismus, der von einem Klassenstandpunkt ausgeht, beinhaltet im Gegensatz dazu den Bruch mit den bürgerlichen Kräften und die unverzügliche Organisierung der Selbstverteidigung der Arbeitenden. Der Kampf gegen den Faschismus kann nicht der Polizei, Justiz und den privaten Sicherheitskräften überlassen werden, die wir in den letzten Monaten beim Versandunternehmen FedEx gegen Lastenträger der Basisgewerkschaft SI Cobas im Einsatz gesehen haben und die ungehindert und ungestraft zuschlagen können wie die von den Bossen von Prato angeheuerten Dealer-Trupps!
Staat und Regierung haben sich nach dem Samstag sofort als die unverzichtbaren Garanten nicht nur der Gesundheit, sondern auch des sozialen Friedens und der Legalität präsentiert. Und diesen Leuten, die den faschistischen Rädelsführern erlaubt haben sich zu organisieren und zu agieren, wie sie wollten, hat die CGIL ihre Türen geöffnet, als wären sie nicht die geschworenen Feinde der Arbeiterklasse, sondern ihre Beschützer.
Ein Instrument der Spaltung
Den Arbeitenden, die von den No-Green-Pass-Plätzen angezogen wurden, sagen wir: Auch wir, die wir Impfstoffe für nützlich halten, um zumindest die schwersten Folgen des Virus zu bekämpfen, waren von Anfang an gegen den Grünen Pass, weil er eine Waffe in den Händen der Bosse ist, um das Proletariat zu spalten; und er ist auch in gesundheitlicher Hinsicht gefährlich. Doch dieser Kampf ist Teil des allgemeineren Kampfes gegen das «Virus der Viren», den Kapitalismus.
Regierung und Unternehmen greifen uns mit despotischen und diskriminierenden Maßnahmen wie dem Grünen Pass an, aber auch durch Prekarisierung, Ausbeutung und Demütigung am Arbeitsplatz, mit dem Verlust von Kaufkraft, der Vorbereitung von Kriegen usw.
Warum scheuen sich die Anführer der No-Green-Pass-Demonstrationen, über diese Dinge zu sprechen? Die Sequenz von Viren, die sich über den Planeten ausbreitet, ist keine Einbildung, sie hat bisher auch nur Asien und Afrika hart getroffen (informieren Sie sich!); sie stammt nicht aus dem Labor eines Dr.Strangelove: sie ist eine der unvermeidlichen Folgen der Umweltzerstörung.
Wenn wir uns also vor dem wachsenden Chaos und den sich abzeichnenden kapitalistischen Katastrophen retten wollen, müssen wir den Kampf auf einer ganz anderen Ebene führen und können uns nicht damit begnügen, bestimmte Medikamente, ob zu Recht oder zu Unrecht, abzulehnen, um andere zu fördern.
*Die TIR sieht sich in der Tradition der linkskommunistischen Strömung der Kommunistischen Partei Italiens (PCdI) Anfang der 1920er Jahre (siehe www.leftcom.org/it/articles/2020-02-28/piattaforma-politica-della-tendenza-comunista-internazionalista).