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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2021

Eine neue Arbeiterpartei auf dem Vormarsch
von Mímir Kristjánsson

Bei den Parlamentswahlen hat die radikale linke Partei Rødt (Rot)
einen historischen Durchbruch erzielt.
In den Umfragen liegt die Partei schon seit Jahren über der Hürde von 4 Prozent, die für den Einzug als vollwertige Fraktion erforderlich sind, sie war bislang aber im Parlament, dem Storting, nur mit einem Abgeordneten vertreten, Bjørnar Moxnes. Das Überschreiten dieses Werts verschafft ihr nun acht Abgeordnete.

Es bedeutet das Ende der Rechtsregierung von Ministerpräsidentin Erna Solberg, die inzwischen ihre Niederlage eingestanden hat.

Über solche Aussichten sind Norwegens Millionäre schon vor der Wahl in Panik geraten. Also taten die Rechten, was sie immer tun: Sie füllten ihre Kassen mit Spenden der Superreichen und schworen ihre Zeitungen, Parteien und Denkfabriken auf die übliche Kampagne gegen die «Roten» ein, die darauf abzielte, Rødt als Unterstützer des stalinistischen Völkermords und der kommunistischen Diktatur zu brandmarken.
Rødt (früher RV – Rote Wahlallianz) war schon immer Zielscheibe dieser Form von Panikmache. Sie ist zu einem Teil aus einer maoistischen Partei der 70er Jahre hervorgegangen, der Kommunistischen Arbeiterpartei (AKP), und sie hat lange und hart dafür gekämpft, die Wähler von ihrem Engagement für eine demokratische Form des marxistischen Sozialismus zu überzeugen, die auf den radikalsten Traditionen der norwegischen Arbeiterbewegung aufbaut. Doch jedesmal, wenn Rødt Gewinne zu erzielen schien, sei es auf nationaler oder kommunaler Ebene, schürte die Rechte –und manchmal sogar die sozialdemokratische Arbeiterpartei (AP) – die Angst vor den «Roten».
2021 ist für Rødt die erste Wahl, bei der diese Taktik nicht mehr griff. Die Partei erhielt 4,7 Prozent der Stimmen und gewann acht Sitze im Parlament. Dieser Zuwachs erfolgte, ohne dass der Stimmenanteil für die Arbeiterpartei wesentlich zurückgegangen wäre, und zusätzlich gab es beachtliche Wahlgewinne für die anderen linken Parteien – die SV (Sozialistische Linkspartei, mit der deutschen Linkspartei vergleichbar) und die Grünen (MDG). Kurz gesagt, in der norwegischen Wählerschaft hat es eine historische Verschiebung nach links gegeben (siehe Kasten).

Es geht um die Klasse
Wie konnte Rødt die Angstmacherei überwinden? Und wie schaffte sie den Durchbruch bei so viel linker Konkurrenz? Die Antwort ist ganz einfach: Es geht um die Klasse!
Seit Bjørnar Moxnes 2012 Parteivorsitzender wurde, hat sich Rødt konsequent auf die Klassenpolitik konzentriert. Aufbauend auf dem Aktivismus der Basis und einem Kern junger Aktiver in einfachen Verhältnissen, die von der Arbeiterklasse bis zur unteren Mittelschicht reichen, konnte die Partei in den mächtigen norwegischen Gewerkschaften Fuß fassen, wo sie nun der ernsthafteste Konkurrent der hegemonialen Sozialdemokratie ist.
Die wichtigste politische Parole von Rødt war der Kampf gegen die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit in Norwegen. Dazu hatte die Partei Forderungen aufgestellt, die weiten Teilen der norwegischen Arbeiterklasse am Herzen liegen: z.B. eine allgemeine zahnärztliche Versorgung, ein Verbot privater Gewinne im Bereich der öffentlichen Wohlfahrt, die Besteuerung der Reichen, die Stärkung von Sozialleistungen und Sozialeinrichtungen sowie die Schaffung zehntausender Arbeitsplätze in der grünen Industrie.
Im Wahlkampf kam diese Botschaft sehr gut an. Jahrzehntelang waren die Norweger stolz auf die geringe Einkommensungleichheit im Land und glaubten in einem sozialdemokratischen Paradies zu leben, in dem der Klassenkampf ein Relikt aus einer vergangenen Zeit ist. Doch all dies änderte sich während der Covid-19-Pandemie, als die rechte Regierung beschloss, Unternehmen und Milliardäre zu retten, während eine Rekordzahl von 200000 Menschen ohne Arbeit dastand. Krankenschwestern leisteten Überstunden zu Niedriglöhnen, während der Osloer Aktienindex in neue Höhen schoss. Sozialhilfeempfänger erlebten Kürzungen und schikanöse Kontrollen durch die Sozialämter, doch die Regierung verteilte Dutzende Milliarden Dollar an private Unternehmen.
Die Reaktion war eindeutig. Zum erstenmal überhaupt nannten die norwegischen Wähler «wirtschaftliche Ungleichheit» als wichtigstes politisches Thema. Dies gab Rødt eine noch nie dagewesene Chance – und das Gespenst der «kommunistischen Diktatur» reichte nicht mehr, sie zu stoppen. Selbst vielen, die nicht für Rødt gestimmt hatten, wurde klar, dass es bei der Angstmache nur um den Schutz der Privilegien der norwegischen Superreichen ging.

Klasse und Klima
Der Schwerpunkt von Rødt auf Klassenfragen zeigte sich auch an der Art und Weise, wie die Partei das andere Hauptthema des Wahlkampfs, den Klimawandel, anging. In Norwegen hängen mehr als 200000 Beschäftigte vom Öl- und Gassektor ab, Forderungen nach der Schließung dieser Industrien führen deshalb immer zu einer Polarisierung. Die linksliberalen Grünen versuchen, junge, urbane, hoch gebildete, «umweltbewusste» Wähler auf ihre Seite zu ziehen und verprellen damit große Gruppen von Industriearbeitern – womit sie die Polarisierung noch verschärfen.
Rødt wählt einen anderen Weg und versucht mit der Forderung nach einem «gerechten Übergang» eine Brücke zwischen Industriebeschäftigten und Aktiven gegen den Klimawandel zu schaffen. Rødt lehnt es ab, dass hunderttausende Beschäftigte in die Erwerbslosigkeit geschickt werden, und präsentierte Pläne für den Aufbau neuer, grüner Industrien. Anstatt mit dem Finger auf das Konsumverhalten der Arbeiterklasse zu zeigen, griff Rødt den Luxuskonsum der Reichen an.
Diese Strategie einer klassenorientierten Klimapolitik war gewagt. Um die Hürde von 4 Prozent zu überwinden, ist Rødt seit jeher in hohem Maße von jungen, gut ausgebildeten Wählern in den norwegischen Großstädten, insbesondere in der Hauptstadt Oslo, abhängig. Gleichzeitig hat die Partei versucht, neue Schichten anzusprechen – auf dem Land, im Dienstleistungssektor, im öffentlichen Dienst und in der Industrie. Die große Frage in der letzten Phase des Wahlkampfs war daher, ob Rødt zu viele junge, städtische Wähler an die Grünen verlieren würde, ohne sie durch neue Wähler aus anderen sozialen Gruppen ersetzen zu können.

Aufstieg einer neuen Arbeiterpartei
Am Wahlabend hat sich die Strategie von Rødt ausgezahlt. Die Partei legte nicht nur in Oslo und in den Großstädten zu, sondern gewann auch in fast allen norwegischen Gemeinden. Sie ist zwar nach wie vor stark von der Unterstützung in den Städten abhängig, aber in geringerem Maße als die Grünen. Eine soziologische Analyse ihres Zuwachses an Wählerstimmen hat ergeben, dass Alleinerziehende, gering qualifizierte und Industriearbeiter, Studierende, Beschäftigte im Dienstleistungssektor und Sozialhilfeempfänger als neue Wählerschichten dazugekommen sind.
Seit fast zehn Jahren arbeitet Rødt am Aufbau einer modernen Arbeiterpartei auf den Grundlagen des radikalen Sozialismus. Ihr Ziel ist es, der sozialdemokratischen AP Konkurrenz zu machen – einer Kraft, die sich seit mehreren Jahrzehnten fast kontinuierlich nach rechts bewegt und in den letzten Jahrzehnten viele schädliche neoliberale Reformen durchgesetzt hat.
Anfangs schien diese Strategie kaum mehr als ein Hirngespinst zu sein. Aber die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit hat es in greifbare Nähe gerückt. In der kommenden Legislaturperiode wird Rødt die einzige Opposition links von der neuen Mitte-Links-Regierung Norwegens sein. Mit einer wachsenden Unterstützung nicht nur in der Wählerschaft, sondern auch in der Arbeiterbewegung, scheint Rødt alle Chancen zu haben, mit der traditionellen sozialdemokratischen Partei konkurrieren zu können.

Der Autor ist Journalist und Buchautor und seit der Parlamentswahl im September einer der acht Abgeordneten von Rødt im Storting.
Gekürzt aus: https://jacobinmag.com.

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