Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2021

Der Sozialstaat wird weiter geschwächt – jetzt unter angeblich ökologischen Vorzeichen
von Angela Klein

Für ihre Vorhaben will die Ampel-Regierung eine regelrechte Gründerzeitstimmung erzeugen. Vor allem ihre weitreichenden Digitalisierungspläne greifen tief in die Strukturen der Gesellschaft ein – sofern sie realisiert werden.

Das Soziale verkümmert weiter
Die ehrgeizigen Investitionsvorhaben lechzen nach zusätzlichen Arbeitskräften, dafür werden alle Schleusen geöffnet: der Niedriglohnsektor wird ausgebaut – Mini- und Midijobs bringen ein bißchen mehr Geld; es soll mehr Weiterqualifizierung bei Menschen in Hartz IV geben, die Zuverdienstgrenzen werden angehoben, das Sanktionsregime aber bleibt. Für Selbständige sind bessere soziale Absicherungen vorgesehen. Die Anpassung der Einkommen in diesen untersten Bereichen ist lächerlich: Der Regelsatz wird ab dem 1.1.2022 um stolze 3 Euro erhöht – fast schon ein Hohn. Und die 12 Euro Mindestlohn sind jetzt schon durch die Inflation aufgefressen, weitere Anpassungen einer Kommission überlassen.
In die Kategorie «Rekrutierung von Arbeitskräften» fällt auch die Erleichterung der Einbürgerung von Asylsuchenden. Die Regierung versteht Deutschland als Einwanderungsland, und damit verträgt sich ein Staatsbürgerschaftsrecht, das auf dem Abstammungsprinzip beruht, schlecht. Dass es grundsätzlich reformiert werden soll, ist zu begrüßen, unabhängig davon, dass das Asylregime damit nicht menschlicher wird: die eh schon militarisierte Abwehr von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen soll europäisiert und effektiviert, Frontex ausgebaut werden.
Für eine Aufbruchstimmung ist das zu mager. Die Ampel hat deshalb eine Reihe erweiterter bürgerlicher Freiheiten im Gepäck, womit die Regierung durchaus auf Zustimmung stoßen wird – allerdings können sie auch polarisierend wirken: etwa die Abschaffung des §219a, der die ärztliche Information über Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt (an der grundsätzlichen Strafbarkeit von Abtreibungen ändert sich nichts); die Legalisierung von Cannabis (Eigenanbau bleibt aber verboten); die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre; die Wiederherstellung der Gemeinnützigkeit auch für politisch engagierte Verbände usw.

Privatisierung und Digitalisierung
Von einer Abfederung der sozialen Kosten der ökologischen Transformation ist an keiner Stelle die Rede. Dabei drohen zehntausende Entlassungen allein in der Autoindustrie. Die Arbeitszeitgesetz soll auf den Prüfstand: Die Unternehmerverbände fordern die Aufhebung der täglichen Höchstarbeitszeiten, die Regierung sucht die Zustimmung der Gewerkschaften für noch mehr Flexibilisierung und wirft ihnen dafür das Bonbon hin, dass Tarifbindung wichtig ist und die Rechte von Betriebsräten und Gewerkschaften im Betrieb gestärkt werden sollen.
Der Staat verabschiedet sich weiter aus der Daseinsvorsorge, die großen Defizite Unterfinanzierung, Personalmangel, schlechte Arbeitsbedingungen werden höchstens bei der Pflege angesprochen, das Fallpauschalensystem wird nicht angerührt. Der Gesundheitsbereich heißt jetzt «Gesundheitswirtschaft», die 15 Zeilen, die ihr gewidmet sind, drehen sich ausschließlich um den Ausbau der Hightechmedizin. Und Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist bekannt als Krankenhausprivatisierer.
Das Ziel, die Finanzierung der Rentenversicherung zukunftsfest zu machen, setzt sich die Ampel schon gar nicht mehr. Eine staatlich abgesicherte Aktienrente überantwortet künftig einen Teil der gesetzlichen Rente dem Kapitalmarkt.
Personalmangel, etwa im Bildungsbereich oder in der staatlichen Verwaltung, soll durch digitale Technik ersetzt werden. Digitalisierung ist überhaupt das Zauberwort und die wichtigste Säule des gesamten Koalitionsprogramms: Die Regierung betrachtet sie als Schlüssel zu einem effektiven schlanken Staat und suggeriert einmal mehr, soziale und ökologische Probleme würden sich durch Investitionen in Technik lösen lassen.

Aggressiv nach außen
Nach außen stützt der ökoliberale Wettbewerbsstaat seine Großmachtambitionen durch Europäisierung und Militarisierung. Die Schaukelpolitik gegenüber Russland (und China), die Merkel und Kohl gefahren haben, wird aufgegeben zugunsten eines aggressiveren Auftretens. Deutschlands Großmachtambitionen treten noch deutlicher zutage.
Die Machtverteilung in der EU soll wieder zugunsten der stärker vergemeinschafteten Strukturen verschoben und mehr Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden. Dies ist insbesondere hinsichtlich des Aufbaus einer europäischen Armee von Bedeutung, denn dieses alte Vorhaben stieß noch nie und stößt auch heute nicht auf einhellige Zustimmung der Mitgliedstaaten. 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts soll Deutschland künftig für «internationales Handeln» ausgeben – da wird die Diplomatie, die Entwicklungshilfe und das Militär in einen Sack gepackt – es ist wahrscheinlich nicht nur rechnerisch, sondern auch politisch so gemeint.
Und: Deutschland will als Staat, der Atomwaffen auf seinem Gebiet lagert, künftig mitreden, wenn auf den roten Knopf gedrückt werden soll. Das konnte bisher verhindert werden.
Was sich von alledem in die Wirklichkeit umsetzen lässt, steht freilich in den Sternen. «Ärger lauert hinter jedem Busch», kommentierte Robert Habeck den Vertrag. Sorgen wir dafür, dass er in diesem Punkt Recht behält. Dabei darf sich der Widerstand nicht im klein-klein verlieren, er muss der Ampel ein Gegenkonzept entgegensetzen.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.