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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2021

Hintergründe des Nahostkonflikts seit der Staatsgründung Israels
von Annette Groth*

Helga Baumgarten: Kein Frieden für Palästina. Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand. Wien: Promedia, 2021. 192 S., 19,90 Euro

Im Mai 2021 revoltierten Palästinenser in Ost-Jerusalem gegen die ihnen drohende Zwangsräumung aus ihren Häusern im Stadtteil Sheikh Jarrah. Die israelische Polizei ging dagegen mit außerordentlicher Brutalität vor; die Häuser werden von israelischen Siedlern beansprucht. Die Hintergründe für diese ungeheuren Gewalttaten, nicht nur in Ost-Jerusalem, auch in vielen Orten der Westbank und in Gaza mit über 250 Toten und fast 2000 Verletzten, haben die deutschen Mainstreammedien weithin verschwiegen.
Die israelische Armee bezieht sich in ihrer Zerstörungswut auf die Dahiya-Doktrin. Diese Doktrin wurde von General Eisenkot 2006 nach dem Libanon-Krieg entwickelt und verlangt die Anwendung von unverhältnismäßiger Gewalt sowie die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, da diese von potenziellen Gewalttätern genutzt werden könnte. Dahiya ist die Basis und Rechtfertigung für die massive Gewalt in den besetzten Gebieten und in Gaza.
Im Rückblick auf die Nakba – die Vertreibung der Palästinenser:innen 1948 – schildert Baumgarten die Brutalität der israelischen Siedler bei der Vertreibung und der Ausplünderung der palästinensischen Bevölkerung und zitiert einen Gewerkschaftsfunktionär: «Es ist kein Zufall, dass Plünderungen und Vertreibung Hand in Hand gehen. Es gibt unausgesprochene, aber (potenziell) sehr wirksame Absichten, keinen Araber im Staat Israel zu lassen».
Eindrücklich analysiert die Autorin die Perfektion der Kontrolle über die Palästinenser und die diversen Methoden der ökonomischen Ausbeutung, basierend auf einem System der Bevölkerungskontrolle, das seit 1987 alle Informationen über jede/n Palästinenser:in in einer digitalen Datenbank speichert. Damit wurde die Basis für die heutige Überwachungstechnologie gelegt, die ein Exportschlager der israelischen Industrie ist.

Oslo – ein Fehler
Wer bislang noch glaubte, der Oslo-Friedensprozess habe Vorteile für die palästinensische Bevölkerung gebracht, wird hier eines Besseren belehrt. Insbesondere wird verständlich, warum die Hamas Respekt genießt und Präsident Abbas abgelehnt wird. In den Oslo-Dokumenten fehlt ein Hinweis auf einen palästinensischen Staat und das Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung – beides zentrale palästinensische Anliegen. Stattdessen wurde die Anerkennung der PLO als legitime Vertretung der Palästinenser:innen verankert, der Verzicht auf Gewalt von seiten der Palästinenser:innen (!) und die damit eingegangene Sicherheitsgarantie für die Israelis: «Die PLO gibt den Terrorismus und andere Akte der Gewalt auf und übernimmt Verantwortung über alle Elemente und Personen in der PLO, um zu gewährleisten, dass sich diese an (die eingegangenen Verpflichtungen der PLO) halten…»
Damit wurde der Grundstein für die bis heute andauernde Kooperation zwischen den israelischen und palästinensischen Geheimdiensten und Polizeieinheiten gelegt, die von vielen Seiten heftig kritisiert wird. Die Gründer der palästinensischen Nationalbewegung wurden so zu Kollaborateuren der israelischen Besatzungsmacht. Das war Arafats größter politischer Fehler, der bis heute nachwirkt.

Die Gaza-Flotille
Besondere Aufmerksamkeit widmet Baumgarten dem «permanenten Kriegszustand» im Gazastreifen, der mit einer bis heute andauernden völkerrechtswidrigen Blockade bestraft wurde, da die Bevölkerung 2006 mehrheitlich für die Hamas stimmte.
Detailliert beschreibt die Autorin die gewalttätigen Bombardierungen, die gezielten massiven Zerstörungen der Infrastruktur, der Krankenhäuser und Schulen, viele unter UN-Verwaltung, die Tausenden von Toten, die die «heißen Kriege» 2008/2009, 2012, 2014, Mai 2021 verursacht haben.
2014 geißelte der ehemalige römisch-katholische Patriarch von Jerusalem, Michel Sabah, den Krieg gegen Gaza: «Was in Gaza passiert, ist kein Krieg, es ist ein Massaker. Ein sinnloses Massaker, denn es bringt Frieden und Sicherheit für Israel keinen Schritt näher.» Das weitgehende Schweigen der westlichen Demokratien zu diesen Massakern ist skandalös und zeigt deutlich die Missachtung und Verletzung der internationalen Menschenrechtskonventionen und des humanitären Völkerrechts.
Als Reaktion auf die Blockade Gazas versuchte im Mai 2010 eine Armada von sechs Schiffen mit Hunderten von internationalen Aktivist:innen, Abgeordneten zahlreicher Parlamente und vielen Prominenten wie dem verstorbenen schwedischen Schriftsteller Henning Mankell 10000 Tonnen Hilfsgüter nach Gaza zu bringen. Diese Free-Gaza-Flottille wurde von der israelischen Armee in internationalen Gewässern überfallen, neun türkische Aktivisten wurden teilweise gezielt getötet. Der weltweite Protest war damals groß und da auch zwei deutsche Parlamentarierinnen dabei waren, kam es zu einem einzigartigen Antrag im Deutschen Bundestag, der einmütig angenommen wurde und die Bundesregierung aufforderte, alles zu unternehmen, um die «Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen…» Leider hat Helga Baumgarten diesen Antrag vom 30.6.2010 nicht erwähnt.
Das Buch ist auch als Einstiegslektüre für Leser:innen geeignet, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben. Und auch Menschen, die sich gut damit auskennen, dürften Neues erfahren.

*Annette Groth ist ehemalige menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion Die LINKE im Bundestag und Teilnehmerin der Free-Gaza-Flottille.

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