Die Fremde und eine Reise im Herbst
dokumentiert
Der Schriftsteller Dogan Akhanli wurde in Savsat, einem Dorf in der türkischen Provinz Artvin geboren. Wie so viele linke Studierende musste er nach dem Militärputsch 1980 untertauchen, wurde 1985 festgenommen und zusammen mit seiner Frau in der Gegenwart seines 1,5 Jahre alten Sohnes gefoltert.
Nach zweieinhalbjähriger Haft sagte er sich von der Revolutionären Kommunistischen Partei (TDKP) los, die ihm zu orthodox und autoritär war. 1992, als eine erneute Verhaftung drohte, floh er nach Köln, wurde als politischer Häftling anerkannt und erhielt 2001 die deutsche Staatsbürgerschaft. Mitte der 90er Jahre begann er zu schreiben – zunächst aus therapeutischen Gründen. Daraus entstanden mehrere Romane, die sich vor allem mit dem Holocaust und dem Völkermord an den Armeniern beschäftigen. Der türkischen Regierung und den Nationalisten war er stets ein Dorn im Auge, er wurde später noch zweimal festgenommen und nach internationalen Solidaritätskampagnen wieder freigelassen.
Nachstehend bringen wir einen Auszug aus einer autobiografischen Schrift.
Wann immer die Worte «Mutter, «Heimat» oder «Heim» ausgesprochen werden, lange ich nach den roten Winteräpfeln. So war es auch, als ich Madonnas letzter Traum schrieb. Als ob ich keinen Roman schreiben würde, sondern den Geruch der schwarzen Odessatrauben, des Wacholders, der Maulbeer- und Kirschbäume, der Rosen, Fichten und Sauerkirschen; die vor dem Dorf gelegene Flachebene, die sie von hinten mit ihren Armen umschlingenden zwei tiefen Täler, die aus den Tälern fließenden Bäche – einer murmelnd, der andere still; die Hügel, an die sich das Dorf lehnt, der Berg Kemera gegenüber, etwas weiter entfernt Sahara-Berg, die noch viel weiter entfernten einsamen Fichten, die Tatzenabdrücke der in den Zeiten irrenden und ihre Höhlen verlassenden Bären; das Heulen der Wölfe, die mit Leuchtkäferaugen ins Dorf herab kommen, zum Geruch der Mutter hinzufüge und tief in meinen Lungen aufnehme, um «die Fremde» in mir herauszureißen.
Dies war der einem Tiefenrausch gleichende Zustand des Sichverlierens. Wie bei Drogensüchtigen in jenen Momenten der Ernüchterung nach dem Rausch, kriecht die «Fremde», die ich aus mir herausgerissen hatte, durch die Nasenlöcher wieder in mich hinein und macht sich, ihr Gift träufelnd, in meinem Herzen breit. Bis ich meinen nächsten Tiefenrausch erleben konnte und verstanden hatte, dass ich versuchte, mit einer Natter im Herzen zu leben, hatte ich mein fünfzigstes Lebensjahr erreicht. Also mein jetziges Alter! […]
In jenem ungenannten Dorf wurden die roten Winteräpfel reif, wenn der Schnee fiel. Da ich seit Jahrzehnten nicht mehr die Möglichkeit hatte, das Dorf meiner Geburt im Winter aufzusuchen, habe ich meinen immer noch dort lebenden Vater nach den roten Äpfeln befragt: Mein Vater bestätigte mir, dass es die roten Winteräpfel noch geben würde, fügte jedoch hinzu: «Die Winter sind nicht mehr so lang wie früher, der Schnee liegt nicht mehr, wie früher, drei Meter hoch.» Ich verfiel dem Gefühl, ich trüge die Schuld daran, dass die Winter nicht mehr so lang waren wie früher. Als mein Vater sagte, dass im Winter nur noch die Alten im Dorf verbleiben würden, wurde mein Schuldgefühl noch größer. Ich dachte, dieses Gefühl sei ein Syndrom, das nur mit mir zu tun hätte.
Als ich später erfuhr, dass Freunde, die eine vergleichbare Vergangenheit hatten wie ich, ähnliche Schuldgefühle hatten, war ich völlig verwirrt. Dies bedeutet also, dachte ich mir, dass Menschen, die «gewisse Ereignisse» erlebt hatten, einfach so «Schuld»(-Gefühle) entwickelten. Meine Freunde, die diese «gewissen Ereignisse» in noch schwerwiegenderen Ausmaßen erlebt haben und sich einer psychischen Therapie unterziehen mussten, erklärten mir, dass meine Feststellung durchaus wissenschaftlich begründet sei: Nach Ansicht der Psychologen – ich gebe nur wieder, was mir zugetragen wurde – machen in vielen Fällen Gewaltopfer für das, was sie erlebt haben, sich selbst verantwortlich. Sie glauben sogar, die Gewalt, der sie ausgesetzt waren, verdient zu haben; dieses Gefühl sei ein verbreitetes seelisches Leiden. Es soll gut sein, dieses Gefühl ins Bewusstsein zu rufen, doch wie gut dies ist, sei zu relativieren. Denn «normale» Menschen, die «gewisse Ereignisse» nicht erlebt haben, würden dieses Gefühl nicht verstehen können.
Als ich dies erfuhr, kam ich zu dem Schluss, dass zwischen Menschen, die «gewisse Ereignisse» erlebt haben, und den anderen eine unsichtbare Mauer bestehen würde. Jetzt, da ich an den Ufern von Rhodos sitze und in Gedanken verloren über diesen Zeilen vor mich hin grüble, beobachte ich unsere Ufer gegenüber und erinnere mich, dass es nun 15 Jahre her ist, dass ich an mein jetziges Ufer gespült wurde und hier Anker geworfen habe. An den Ufern, an die ich damals gespült wurde, gab es kein blau schimmerndes Meer, aber wunderschöne Wälder, zwischen den Wäldern dahinfließende Autobahnen, Städte, die Berlin, Hamburg, München und Köln hießen; Flüsse mit Namen wie Elbe und Rhein. […]
Nun war auch ich hier, und als wir ein Jahr später in das am Waldrand gelegene Haus zogen, waren mein Sohn in sein achtes und meine Tochter in ihr drittes Lebensjahr getreten. […] Als ich meinen Fuß über die Schwelle des Hauses am Waldrand setzte, konnte ich nicht ahnen, was für eine Zukunft uns erwarten würde; aber ich fühlte, dass dies die Eingangspforte nach Deutschland, in die deutsche Gesellschaft sein würde. Bei uns befand sich Margret, die kein einziges Wort Türkisch sprach. Sie brachte uns mit ihrem Auto zum Haus am Waldrand und versuchte den Männern namens Jörg und Wolfgang, denen ich im Laufe der folgenden Jahre sehr nahe stehen würde, klar zu machen, was für eine liebenswerte Familie wir doch seien. […]
Unsere Freunde, von denen einer Lehrer und der andere Busfahrer war, mit denen wir nunmehr unser Leben teilten und die uns innerhalb kurzer Zeit so nah geworden waren, als hätten wir Vater und Mutter gemeinsam, wollten von uns wissen, was uns an diese Ufer geschwemmt habe. Es war kein Versuch, Auskünfte politischer Natur einzuholen. Sie interessierten sich dafür, welche persönlichen Erlebnisse zu unserer «Heimatlosigkeit» geführt hatten. Sie wollten etwas mehr über die Menschen wissen, mit denen sie ihren Alltag teilten. Gegen diesen Wunsch gab es nichts einzuwenden, wir wussten nur nicht, wie wir von den Geschehnissen erzählen sollten, die uns widerfahren sind.
Ich zum Beispiel wurde im Alter von 18 festgenommen, weil ich an einem Kiosk eine einstmals linke Zeitung – die heute rassistische Positionen vertritt – kaufte. Elf Tage lang wurde ich «befragt»; fünf Monate war ich dann im Gefängnis Topta??, dass vor hundert Jahren als Pferdegestüt genutzt wurde und in dem auch die Gefangenen von Yass?ada gewesen waren. Als ich auf freien Fuß gesetzt wurde, hatte ich nicht nur die Aufnahmeprüfungen für die Universität verpasst, sondern mir wurde auch bewusst, dass mir eine Menge Möglichkeiten, die mir das Leben hätte bieten können, nunmehr aus den Händen geglitten waren. Seit jenem Tag war es mir nicht mehr möglich, meinen Frieden mit dem Staat der Türkischen Republik zu schließen.
Derweil der Staat auf seinem Staatsein und ich auf meiner Widerspenstigkeit beharrte, wurde ich zehn Jahre später zusammen mit meiner Frau und unserem damals 16 Monate alten Sohn erneut «befragt». Die «Befragung» dauerte einen Monat. In diesem Monat wurden mein Sohn und meine Frau ins Krankenhaus verlegt. Meine Frau habe ich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht wiedererkannt. Meinen Sohn habe ich, da er noch während des Krankenhausaufenthalts einem Verwandten übergeben wurde, nicht wieder gesehen. Als meine Frau ein Jahr später und ich drei Jahre später freigelassen wurde, waren wir drei unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden. Wenn auch das Schreiben des «brotkrumenklein» leichter ist als es zu werden, so ist doch die Natter, die sich im Herzen breit gemacht hat, zu spüren.
Vier Jahre nach der Haftentlassung haben wir die Türkei verlassen. Meine Erinnerungen an jene Tage habe ich einmal so beschrieben:
«Ende 1991 erreichten wir unter Verwendung von gefälschten Pässen, an die wir mit Hilfe von Freunden gekommen waren, auf dem Luftweg Köln. Ich war mit meinem Sohn geflohen, meine Frau mit meiner Tochter. Die Erinnerungen meines Sohnes an die Tage unserer Flucht sind hinter einer Nebelwand zurückgeblieben. Er kann sich nicht daran erinnern, dass an jenem Tag vor Aufregung sein Fieber stieg; auch nicht daran, mich gefragt zu haben: «Papa, sind wir gerettet?» – ebenso wenig an meine Antwort («Wir sind gerettet»). Seine einzige Erinnerung an jenen Tag ist, dass er in die Obhut seines Onkels Erdal kommen würde, falls man mich verhaftete.
Die Flucht meiner Tochter mit ihrer Mutter verlief wesentlich schwieriger. Sie hatten am Flughafen zwar Verdacht auf sich gezogen, doch durch die unglaublichen Quengeleien meiner Tochter haben sie noch den Kopf aus der Schlinge ziehen können. Als die letzten Passagiere haben sie es noch geschafft, das Flugzeug zu besteigen. Am Flughafen hat uns ein Ehepaar empfangen, das ich damals seit 15 Jahren nicht gesehen hatte und heute noch zu meinen engsten Freunden zähle. Auch sie waren politische Flüchtlinge. Der männliche Teil der beiden sagte: «Jetzt haben wir der Oligarchie noch ein Ei ins Nest gelegt», woraufhin seine Frau nachdenklich erwiderte: «Es ist noch nicht heraus, wer ein Tor geschossen hat!» Sie hatte recht: «Die im Exil leben, können das Spiel nicht gewinnen, sie werden immer die sein, die das letzte Tor kassieren» (Milliyet, 15.9.2000).
So habe ich wohl mit dem Gebrauch des Wortes «Exil» das Gefühl einer dauernden Niederlage zum Ausdruck gebracht. Ich weiß nun, dass die heutige Bezeichnung jenes Gefühls «Fremde» lautet. Dass wir das, was uns widerfahren war, unseren Freunden, mit denen wir unser Leben teilten, nicht mitteilen konnten, lag nicht an der Sprache, es war das Erlebte selbst.
Geschrieben im März 2008. Aus dem Türkischen übersetzt von Önder Erdem. Es lohnt sich, den Text in voller Länge zu lesen: http://dogan-akhanli.de/wordpress/wp-content/uploads/2015/05/Die-Fremde-und-eine-Reise-im-Herbst.pdf.
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