Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2021

‹Eine hohe Impfquote kann nur erreicht werden, wenn man die soziale Frage einbezieht›
Gespräch mit Claudia Bernhard*

Eine Seuche ist nicht nur eine Krankheit, sie ist auch – und vielleicht sogar vorrangig – ein soziales Geschehen. Als solches hat sie auch einen Klassencharakter: Es sind die Armen, die vorrangig erkranken und sterben. Mit Impfstoffen und Medikamenten allein kann sie deshalb nicht schnell und wirksam bekämpft werden, obwohl diese natürlich notwendig sind. Es braucht auch die direkte Ansprache der Bevölkerung – gerade der Ärmsten. Claudia Bernhard erzählt, wie Bremen zu seiner hohen Impfquote gekommen ist.

Bremen rühmt sich, mit 6,2 Prozent (Stand: 12.12.) eine der niedrigsten Infektionsraten unter den Bundesländern zu haben – unterboten nur noch von Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Zugleich habt ihr mit 84,5 Prozent Erstimpfungen und 81 Prozent Zweitimpfungen die höchste Impfquote – und das ganz ohne Impfzwang. Wie habt ihr das hingekriegt?

Der Schlüssel ist ganz klar die direkte Ansprache sowie Information und Aufklärung. Natürlich ist es wichtig gewesen, ein großes Impfzentrum zu haben und ein eigenes, gut funktionierendes Callcenter. Was unsere Impfkampagne in Bremen aber ausgemacht hat und bis heute ausmacht, sind unsere Impfangebote in den Stadtteilen und Quartieren.
Wir sind schon sehr früh direkt in die Stadtteile gegangen, habe vorübergehend kleine Impfzentren aufgebaut oder unsere Impftrucks hingeschickt. Wir haben die Impfmöglichkeiten also dorthin gebracht, wo die Bremerinnen und Bremer sind. Ein einfaches, niedrigschwelliges Impfangebot war und ist hier entscheidend.
Doch das Angebot allein reicht nicht aus. Wer zweifelt, Fragen hat oder die herkömmlichen Informationen nicht versteht, wird sich auch beim Impftruck nicht impfen lassen. Deswegen haben wir eine eigene Infokampagne aufgelegt, die in sieben Sprachen läuft. Wir haben ganz stark auf Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gesetzt, sind auf Kulturvereine, Initiativen, Glaubensgemeinschaften zugegangen, haben dort informiert und aufgeklärt.
Ein dritter, ganz wichtiger Baustein waren und sind bis heute aber unsere Gesundheitsfachkräfte. Wir haben bereits im letzten Jahr analysiert, in welchen Stadtteilen die Inzidenz besonders hoch ist. Das Ergebnis war wenig überraschend: In strukturell benachteiligten, ärmeren Stadtteilen gibt es mehr Infektionen. Bei wenig Wohnraum, viel prekärer Beschäftigung und schlechterer medizinischer Versorgung war damit leider zu rechnen.
Gegen all diese Umstände können wir kurzfristig nicht ankommen, deswegen haben wir uns entschieden, die Bremerinnen und Bremer in genau diesen Quartieren zu unterstützen. Seit Anfang 2021 haben wir Gesundheitsfachkräfte dorthin geschickt, die rund um Corona informieren und aufklären, Masken verteilen, Beratungsangebote bereitstellen. Diese Gesundheitsfachkräfte unterstützen jetzt auch bei der Aufklärung über die Impfung und werden in den Stadtteilen hervorragend angenommen.
Es ist also ganz deutlich: Eine hohe Impfquote kann nur erreicht werden, wenn man die soziale Frage in die Impfkampagne mit einbezieht. Man muss nicht nur sagen, dass man alle Menschen mit dem Impfangebot erreichen will, man muss das auch umsetzen. Und das tun wir in Bremen.

Wie seid mir mit den Menschen umgegangen, die sich nicht impfen lassen woll(t)en?

Natürlich gibt es auch Bremerinnen und Bremer, die sich nicht impfen lassen wollen, Bedenken oder Fragen haben. Wir sind bislang aber nie auf größere Widerstände gestoßen. Szenen wie aus anderen Bundesländern, mit Impfen unter Polizeischutz oder massiven Bedrohungen kennen wir hier nicht. Uns ist es wichtiger, Bedenken und Fragen ernst zu nehmen und diese mit guten Argumenten zu entkräften. Und das gelingt uns in sehr vielen Fällen.

Es wird behauptet, eure hohe Impfquote kommt dadurch zustande, dass viele Menschen aus dem Umland nach Bremen reisen, um sich dort impfen zu lassen. Von den Bremer:innen selber seien das gar nicht so viel mehr als anderswo. Habt ihr Zahlen darüber?

Wir haben bereits zu Beginn der Impfkampagne gesagt, dass wir in Einrichtungen wie Pflegeheimen oder Krankenhäusern nicht darauf achten, wo die Beschäftigten leben. Uns war es wichtig, dass wir die Einrichtungen durch die Impfung schützen und dadurch große Ausbrüche verhindern können. Zu Beginn haben wir dafür einen Impfstoffausgleich aus Niedersachsen erhalten, der wurde aber schon im Frühsommer eingestellt, weil Bremerinnen und Bremer zu ähnlichen Anteilen in Niedersachsen geimpft wurden. Impfquote ist nicht dasselbe wie der Anteil Geimpfter an der Bevölkerung. Das gilt für alle Bundesländer. Einen Impfcode für das Impfzentrum bekommen die Personen, die in Bremen wohnen oder ihren Hausarzt hier haben. Deswegen ist die Abweichung nicht sehr groß.

Zum Land Bremen zählt ja auch Bremerhaven. Wie ist die Lage dort? Gibt es deutliche Unterschiede zu Bremen?

Nein, große Unterschiede zwischen den beiden Städten gibt es eigentlich nicht. Wir haben seit Beginn der Impfkampagne alles gemeinsam geplant und auch umgesetzt. Die Angebote in beiden Städten gleichen sich, wenn natürlich auch in unterschiedlichen Dimensionen.

In Triest waren es Hafenarbeiter, die gegen den Impfpass protestiert und teilweise gestreikt haben. Wie ist denn in Bremerhaven die Stimmung, auch unter den ausländischen Arbeitern?

Ich würde sagen: ganz im Gegenteil! Wir haben in Bremen und Bremerhaven im Sommer damit begonnen, Impfangebote direkt an Bord oder am Kai für ausländische Seefahrer zu machen. Unsere mobilen Teams, die an Bord der Schiffe geimpft haben, wurden teilweise mit Freudentränen begrüßt. Viele Seeleute sind seit Monaten auf ihren Schiffen unterwegs und haben in ihren Heimatländern nicht die Chance sich impfen zu lassen. Ich glaube, auch hier können viele andere Hafenstädte von Bremen und Bremerhaven lernen.

In Bremen regiert derzeit Rot-Rot-Grün. Hatte Die LINKE mit ihren Koalitionspartnern Differenzen in Bezug auf die Corona-Politik?

Natürlich gibt es innerhalb des Senats darüber mal Differenzen, die waren aber nie sehr ausgeprägt. Wir LINKE besetzen ja in der Pandemie zwei Schlüsselressorts: Gesundheit sowie Wirtschaft und Arbeit. Damit konnten wir im Senat wichtige Schwerpunkte setzen und beispielsweise die soziale Frage als wichtigen Maßstab der Bremer Pandemiebekämpfung setzen.

Arbeitet ihr auch mit (Teil-)Schließungen oder Verboten von Massenveranstaltungen? Was sind eure Auflagen für den Unterhaltungsbereich und die Gastronomie?

Ja, auch in Bremen gab und gibt es Einschränkungen von Veranstaltungen oder der Gastronomie. Wir kommen aber seit dem Frühjahr ohne Schließungen oder Teilschließungen durch. Auch hatten wir im Herbst noch eine sehr lange Phase, in der es quasi keine Einschränkungen im öffentlichen Leben gab, abgesehen von den Basismaßnahmen. Inzwischen haben aber auch wir eine 2G-Regel für weite Teile des öffentlichen Lebens, in Bremerhaven aktuell zusätzlich 2G+, aber nur für einen überschaubaren Bereich an Einrichtungen. Die aktuelle Lage in den Krankenhäusern macht diese Einschränkungen nötig.

Wie bewertet ihr die vorgesehene bundesweite Einführung einer Impfpflicht?

Ich persönlich lehne eine allgemeine Impfpflicht entschieden ab. Es ist und bleibt entscheidend, dass wir es in Deutschland schaffen, die Menschen von der Impfung zu überzeugen. Das geht nur mit Information und Aufklärung, mit direkten Angeboten und Ansprachen. Eine Impfpflicht wird uns auch nicht aus der vierten Welle herausbringen können, das zu behaupten wäre falsch. Um einen nachhaltigen Effekt zu erzielen, brauchen wir in Deutschland mehr Gesundheitsbildung, und das geht im ganz konkreten Fall eben nur über Information und Aufklärung.
Außerdem versucht die aktuelle Debatte über die Impfpflicht auch die Fehler der vergangenen Monate zu überdecken. Die Impfkampagne in ganz Deutschland lief doch nicht wirklich rund, immer wieder gab es zu wenig Impfstoff. Es wurden Impfzentren geschlossen, dann wieder eröffnet.
Ich glaube, es gibt in vielen Teilen Deutschlands noch großen Nachholbedarf bei Impf- und Aufklärungsangeboten. Über diese Versäumnisse kann mit einer Impfpflicht nicht einfach hinweggegangen werden.

*Claudia Bernhard ist Gesundheitssenatorin in Bremen für die Partei DIE LINKE

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