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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2021

Ärzt:innen in Südkurdistan: Eindrücke von einer Delegationsreise
von Christian Haasen*

Der Demokratische Konföderalismus wird vor allem in Verbindung mit der autonomen Föderation Nord- und Ostsyrien (Rojava) gebracht. Er wird aber auch an anderen Orten in Kurdistan praktiziert, etwa wie im Flüchtlingscamp Mahmour. CHRISTIAN HAASEN hat an einer Delegationsreise dreier Ärzt:innen teilgenommen und schildert die Eindrücke, die er gewinnen konnte.

Demokratischer Konföderalismus statt islamischem Fundamentalismus
Beim Demokratischen Konföderalismus geht es um den Aufbau einer demokratisch-ökologischen Zivilgesellschaft, den Aufbau einer Selbstverwaltung durch kommunale Basisorganisierung, ohne eine kurdische Eigenstaatlichkeit anzustreben. Er basiert auf drei Säulen Vergesellschaftung der Ökonomie, Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit. Dabei soll eine multiethnische, partizipative Basisdemokratie im Rahmen eines Rätesystems den nationalstaatlichen Paradigmen entgegengestellt werden, um das Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zu fördern. Die Abhängigkeit der Frau vom Mann soll überwunden und der Aufbau einer alternativ-ökologischen Ökonomie gefördert werden.
Das Konzept des Demokratischen Konföderalismus geht auf den Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, zurück. Er wurde dabei von den Schriften Murray Bookchins inspiriert, eines US-amerikanischen libertären Sozialisten, der als Begründer des Öko-Anarchismus gilt. Bookchin (1921–2006) hatte in den 30er Jahren bei der Young Communist League, der Jugendorganisation der KP der USA, begonnen, sich dann unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs vom Stalinismus gelöst und sich einer Gruppe um den Trotzkisten Josef Weber angeschlossen. In deren Zeitschrift Contemporary Issues erfolgten seine ersten Publikationen.
In der Autoindustrie tätig, war Bookchin zunächst gewerkschaftlich aktiv, bis er sich 1946, nach einem Kompromiss der Gewerkschaft United Automobile Workers (UAW) in einem Streik bei General Motors, vom Klassenkampf alter Prägung und von der Gewerkschaftsbewegung distanzierte und sich einer anarchistischen Ethik und Philosophie zuwandte.
Er setzte auf Stadtteilarbeit, Bürgerversammlungen und direkte Demokratie, wurde zu einem der Vordenker des «libertären Kommunalismus» und der globalisierungskritischen Bewegung. Vor allem gilt er als Vordenker einer Synthese aus ökologischem Bewusstsein und der Notwendigkeit einer sozialen Revolution.
Somit muss der Demokratische Konföderalismus, wie er in Teilen in Kurdistan umgesetzt wird, als Versuch eines radikal-ökologischen und demokratisch-antikapitalistischen Gesellschaftsmodells unterstützt werden, vor allem da sich im Nahen Osten ansonsten der islamische Fundamentalismus auf dem Vormarsch befindet.

Warum nach Mahmour?
Im Juli 2021 reiste eine Ärztedelegation in den Nordirak in das Flüchtlingslager Mahmour und leistete Solidarität. Dabei ging es vor allem um ein Gesundheitszentrum, welches durch Fortbildung und Mitarbeit unterstützt wurde. Die Organisation des Gesundheitszentrums gibt einen Einblick in die Bemühungen der kurdischen Bevölkerung beim Aufbau des Demokratischen Konföderalismus.
Im Camp Mahmour ist der Aufbau eines weit verzweigten Rätesystems erkennbar, in dem Frauen und Männer gleichberechtigt nebeneinander agieren. Die Vergesellschaftung der Ökonomie ist in den Entscheidungen des Gesundheitsrats deutlich erkennbar, sie sorgt für eine angemessene Kostenstruktur im Gesundheitsbereich. In den Rätestrukturen spiegeln sich die ethnisch-religiösen Teile der Gesellschaft wieder.
Ökologisch sind die Bemühungen des Camps um eine Begrünung der Wüste durch den Anbau von Bäumen und Pflanzen, aber auch die Selbstversorgung durch den eigenen Anbau von Gemüse und Obst. Viele dieser Ansätze befinden sich noch in den Anfängen, werden diskutiert und weiterentwickelt.
Das Flüchtlingslager Mahmour liegt in der Nähe der Autonomen Region Kurdistan (ARK), die einzige in der Verfassung des Irak definierte Autonomieregion. Das Flüchtlingslager in Mahmour wurde 1998 von der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR errichtet – die in den 90er Jahren aus dem türkischen Teil von Kurdistan geflohenen Kurd:innen (rund 12000) sollten gemeinsam untergebracht werden.
Das zunächst eingerichtete Lager in Atrush war von der dort herrschenden KDP (Kurdische Demokratische Partei) nicht gewünscht, sodass die Flüchtlinge weiter in das Gebiet nahe der Stadt Mahmour mitten in der Wüste im Nordirak getrieben wurden; damals stand es noch unter der Herrschaft von Saddam Hussein. Es ist eines der ältesten Flüchtlingslager der Region, vor allem aber ein Lager mit politischen Geflüchteten, das als Reaktion auf die Politik des türkischen Staates zu verstehen ist.
Im Laufe der Jahre wurde aus einem Zeltlager eine Kleinstadt aufgebaut. Neben festen Häusern konnte durch Wasserbohrungen ein System mit umfassender Wasserversorgung für das Lager errichtet werden, mit Generatoren wurde Elektrizität in alle Häuser gebracht. Ein Abwassersystem wurde errichtet, eine Müllabfuhr organisiert. Schulen wurden gebaut, ein Gesundheitszentrum, ein Physiotherapiezentrum und eine zahnärztliche Praxis errichtet.
Beeindruckend ist auch, wie viele Bäume und andere Pflanzen mittlerweile in diesem Wüstenfleck gepflanzt wurden – dabei versorgen sich die Menschen mit Trauben, Feigen, Tomaten und anderen Früchten und Gemüse selbständig, teilweise können diese Produkte auch außerhalb des Lagers verkauft werden.

Geschichtliche Eckpunkte
Drei Zeitpunkte sind geschichtlich besonders hervorzuheben. Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 durch den Krieg der USA erzielte die UNHCR 2004 zusammen mit der neuen irakischen Regierung ein Abkommen mit der Türkei, um eine Rückkehr der Geflüchteten in das türkische Staatsgebiet zu ermöglichen. Es wurde jedoch von den Geflüchteten nicht angenommen – zu tief war das Misstrauen gegen die türkische Regierung.
Ein weiterer wichtiger Einschnitt in der Situation des Lagers erfolgte 2014, als Kämpfer des Islamischen Staates (IS, in der Region als Daesch bezeichnet) große Teile des Irak eroberten und auch das Lager einnahmen. Die Bewohner:innen waren zuvor aus dem Lager geflohen, sodass keine schweren Verluste zu verzeichnen waren. Camp Mahmour wurde dann kurze Zeit später von Kampfeinheiten der PKK und den Peschmerga der KDP befreit.
Der dritte wichtige Einschnitt erfolgte 2017 im Zusammenhang mit dem Referendum der kurdischen Bevölkerung in der ARK über die Unabhängigkeit Kurdistans vom irakischen Staatsgebiet. Dabei stimmten 92 Prozent der Bevölkerung für eine Unabhängigkeit Kurdistans, bei einer hohen Wahlbeteiligung.
Die Reaktion der irakischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Die irakische Armee übernahm die Kontrolle von etwa 40 Prozent des von der ARK kontrollierten Gebiets, darunter vor allem die aufgrund der Ölförderung strategisch wichtige Stadt Kirkuk, aber auch die Stadt und das Flüchtlingslager Mahmour; das Gebiet der ARK wurde damit auf den Gebietsstand von vor 2003 reduziert.
Diese geopolitische Situation führte zu einer neuen Gefährdung für das Lager. Einerseits wuchs die Gefahr islamistischer Anschläge. Andererseits blieb die Gefahr durch den türkischen Staat, der alles daran setzte, das Lager in Mahmour als ein «Nest des Terrorismus» zu bekämpfen. Als ein Punkt der Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Staat und der KDP wurde 2019 umgesetzt, dass zur «Bekämpfung des Terrorismus» niemand aus dem Lager in das von der KDP kontrollierte Gebiet der ARK einreisen dürfe.
Diese Isolation ist für die Bevölkerung des Flüchtlingslagers Mahmour sehr einschneidend. Plötzlich durften Kurd:innen aus dem Lager nicht mehr nach Kurdistan reisen! Außerdem erfolgen seit 2019 militärische Drohnenangriffe auf vermeintliche PKK-Kommandanten im Flüchtlingslager Mahmour, zuletzt am 5.Juni und 3.September 2021 – diese Operationen werden vom türkischen Geheimdienst MIT durchgeführt, der aus dem KDP-kontrollierten Teil der ARK operieren darf.

Gesundheitsversorgung in Zeiten der Isolation
Aufgrund dieser Entwicklung hat das Gesundheitszentrum im Camp Mahmour eine besondere Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung. Es erfüllt drei wichtige Aufgaben:
– Eine autonome Gesundheitsversorgung für alle Personen im Lager bedeutet Unabhängigkeit von fremden Gesundheitsstrukturen – seit dem Einreisestopp an der Grenze zur ARK ist die Versorgung in benachbarten Städten massiv erschwert worden.
– Die gesundheitlichen Leistungen im Gesundheitszentrum sind qualitativ so gut, dass auch die irakische Bevölkerung aus benachbarten Orten das Gesundheitszentrum aufsucht. Somit ist es ein Aushängeschild des Flüchtlingscamps und wirkt als vertrauensbildende Maßnahme zwischen der irakisch-kurdischen und irakisch-arabischen Allgemeinbevölkerung und der Bevölkerung im Camp. Der vom türkischen Staat propagierten Bezeichnung des Camps als «Nest des Terrorismus» wird damit entgegen gewirkt.
– Die sozial angemessenen, vergleichsweise niedrigen Preise für Gesundheitsleistungen im Zentrum führen dazu, dass die Preise für Gesundheitsleistungen auch in der Umgebung niedrig gehalten werden müssen.
Die gesellschaftlichen Bemühungen im Camp Mahmour sind ein deutliches Zeichen für gesellschaftlichen Fortschritt in der Region des Nahen Ostens. Die Einführung von Elementen des Demokratischen Konföderalismus ist ein wichtiger symbolischer Gegenpol zu dem derzeit wieder aufstrebenden islamischen Fundamentalismus.
Die Bemühungen, das Camp als terroristisch zu diffamieren, wie der türkische Staat sie betreibt, sind hingegen eine indirekte Unterstützung für den islamischen Fundamentalismus. Den gesellschaftlichen Fortschritt, den das Camp darstellt, müssen deshalb alle demokratischen Kräfte weltweit solidarisch begleiten.

*Christian Haasen ist Mitglied im Verein demokratischer Ärzt:innen.

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