Der Wahlkampf hat bereits begonnen, die Umfragen sind deprimierend
von Michel Rousseau
In vier Monaten, am 10.April, findet in Frankreich die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt (die zweite Runde folgt am 24.April). Die Voraussagen sind niederschmetternd bis haarsträubend, trotzdem ist noch alles offen, sagt MICHEL ROUSSEAU, mit dem wir über die politische Situation vor den Wahlen sprachen.
Rousseau ist ein Mitbegründer der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit und heute in der Gruppe Ensemble! aktiv. Seine Aussagen geben den Stand der Umfragen und Initiativen von Mitte Dezember wieder.
Auch bei diesen Wahlen wird eine starke Wahlenthaltung vorausgesagt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass 40 Prozent der Befragten noch nicht wissen, wem sie ihre Stimme geben sollen. Die realen Ergebnisse können also stark von den derzeitigen Umfragen abweichen.
Im bürgerlichen Lager liegt Macron vorn; er versammelt das rechte und das linke Zentrum, aber auch Parteilose. Die Umfragen geben ihm 23–25 Prozent; ob es dabei bleibt, hängt davon ab, wie er weiter mit der Pandemie umgeht und wie sich die soziale Lage entwickelt.
Die extreme Rechte
In den Umfragen wie auf der Straße und auf Kundgebungen erlebt diese Rechte einen ungebrochenen Aufschwung. Ihr großer gemeinsamer Feind ist der muslimische Einwanderer, der die weißen Franzosen aus ihrem Land verdrängt, weitere zentrale Themen sind Sicherheit und Nationalismus.
Es ist nicht so, dass Frankreich unter einer akuten Einwandererwelle zu leiden hätte, es kommen nicht mehr Migrant:innen hierher als anderswo auch. Aber die koloniale Vergangenheit des Landes hat bewirkt, dass in den letzten Jahrzehnten viele Menschen aus dem Maghreb und aus afrikanischen Ländern zugezogen sind, in denen Frankreich eine Militärpräsenz unterhält. Sie leben vielfach abgeschottet in sehr armen Stadtteilen, in die nicht einmal mehr die Polizei reinkommt.
Die extreme Rechte will all diese Menschen in ihre Ursprungsländer zurückschicken. Dafür möchte sie den Familiennachzug verbieten; einige wollen auch das Staatsbürgerschaftsrecht ändern.
Marine Le Pen und ihr Rassemblement National (RN) präsentieren diesen Diskurs relativ gemäßigt, weil sie als seriös und präsidiabel gelten möchten und deshalb die Verbindungen zur historischen extremen Rechten gern unter den Tisch kehren. Das ist aber Fassade. Im Kern vertritt die Partei – und ihre Wählerschaft – noch die alten Auffassungen der Vorläuferorganisation Front National (FN), nur die Tonlage hat sie etwas gedämpft – z.B. tritt sie nicht mehr mit der Forderung auf, Frankreich solle aus der EU und aus dem Euro austreten; Mitglieder des RN, die offen mit rassistischen, fremdenfeindlichen oder homosexuellenfeindlichen Äußerungen auftreten, werden unverzüglich ausgeschlossen.
Besorgniserregender ist der raketenartige Aufstieg von Éric Zemmour, ein Rassist und Antisemit, der offen dafür wirbt, alle Muslime aus Frankreich rauszuwerfen. Das propagiert er als Lösung für alle Probleme, die Frankreich derzeit hat.
Er bezieht sich dabei positiv auf das Ende des Algerienkriegs, als nach der Unabhängigkeitserklärung eine Million Franzosen aus Algerien ausgewiesen und nach Frankreich zurückgeschickt wurden. Wenn man damals eine Million Franzosen ausweisen konnte – warum soll man nicht heute mehrere Millionen Muslime ausweisen können?, argumentiert Zemmour. Es müsse Schluss sein damit, dass die extreme Rechte in Frankreich sich für ihre Vergangenheit entschuldigen muss. Das ist die Haltung der faschistischen Rechten.
Zemmour spricht natürlich einen Teil der Wählerschaft von Marine Le Pen an, aber auch konservative Rechte, die nicht sehr politisch sind, sich in einem nationalistischen Diskurs jedweder Art wiedererkennen und auf einen Heilsbringer wie Trump in den USA warten.
Sowohl Zemmour als auch Le Pen kommen in den Umfragen jeweils auf 15 Prozent – damit beziehen über 30 Prozent der Wähler heute offen rechtsextreme Positionen.
Nun ist es natürlich möglich, dass die Blase um Zemmour beim kleinsten Pieks platzt und er letztlich bei 5 Prozent landet. Das Problem ist, dass er von den Medien sehr gepuscht wird, vor allem vom Medientycoon Vincent Bolloré, einem Milliardär, der sich gerade anschickt, einen der größten Medienkonzerne Europa aufzubauen, und der Zemmour unterstützt. Dieser hat gerade eine Partei gegründet mit dem vielsagenden Namen Reconquète (Rückeroberung) – eine Kriegsbotschaft.
Darüber hinaus gibt es noch mehrere kleinere rechtsextreme Parteien. Marine Le Pen hat also Chancen, im 1.Wahlgang an die 20 Prozent heranzureichen und es in die Stichwahl zu schaffen.
Die Konservativen
Auch die gaullistische Rechte (LR – Les Républicains) stellt sich neu auf. Sie ist sehr zerstritten, seit François Fillon 2017 mit seiner Kandidatur auf den 3.Platz zurückgeworfen wurde, hinter Macron und Le Pen. Die Partei hat jetzt Valérie Pécresse als Präsidentschaftskandidatin nominiert, sie ist Präsidentin der Region Ile de France, mit 12 Millionen Einwohnern die größte Region Frankreichs. Ihre Mehrheit ist aber fragil.
In der Stichwahl musste Pécresse gegen den ultrareaktionären Eric Ciotti antreten, der auf den Positionen von Zemmour steht und damit nur hauchdünn unterlag. Jetzt will er sich seine Unterstützung für Pécresse natürlich vergolden lassen. Auch LR kommt in den Umfragen auf etwa 20 Prozent.
Alles zusammengenommen kommt die konservative bis extreme Rechte auf über 50 Prozent.
Die Linke
Die Linke ist komplett zersplittert und riskiert, als politische Kraft von der Bildfläche zu verschwinden, ähnlich wie in Italien. Von der sozialdemokratischen PS (Parti Socialiste) bis zu den Grünen und der radikalen Linken kommt sie zusammen auf weniger als 25 Prozent der Umfragewerte: Nathalie Arthaud von Lutte Ouvrière und Philippe Poutou von der NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) erreichen in Umfragen jeweils rund 2 Prozent, die PCF (Parti Communiste Français) 2,5 Prozent – vor 40 Jahren holte die PCF noch an die 20 Prozent.
Ihr unaufhaltsamer Niedergang hat auch mit den Veränderungen in der Arbeiterklasse zu tun infolge des Niedergangs großer Industriezweige wie etwa der Stahlindustrie und der zunehmenden Prekarisierung von Teilen der abhängig Beschäftigten.
Die PS kommt auf 3–5 Prozent – für deren Spitzenkandidatin Anne Hidalgo, der Bürgermeisterin von Paris, eine große Enttäuschung, gestartet war sie mit 8 Prozent. Die Grünen werden mit 6–8 Prozent gehandelt.
Die größte Zustimmung auf der Linken hat die Union Populaire von Jean-Luc Mélenchon, ihr geben die Umfragen 8–10 Prozent. Die Union Populaire ist eine neue Sammlungsbewegung, die Mélenchon um seine Kaderpartei Parti de Gauche schart.
Auch sie schleppt als notorischen Ballast den Mangel an innerparteilicher Demokratie mit sich herum. Mélenchon lehnt auch jedes Bündnis mit anderen ab. Es ist ihm jedoch gelungen, bekannte Personen aus dem Kulturbereich und Aktivist:innen aus anderen Zusammenhänge wie die ehemalige Co-Vorsitzende von Attac, Aurélie Trouvé, für die Union Populaire zu gewinnen.
Die Spaltungslinien in der Linken verlaufen aber nicht nur entlang der verschiedenen Organisationen, einige sind auch inhaltlicher Natur. Sie betreffen z.B. das Verhältnis zur Atomenergie: 300000 Menschen sind in Frankreich in diesem Sektor beschäftigt. Die PCF teilt weitgehend die Position von Macron über die Notwendigkeit, weitere Atomkraftwerke zu bauen; Mélenchon und die Grünen fordern den Atomausstieg bis 2045. In sozialen Fragen liegen die Parteien nah beieinander.
Überraschung
Keine Partei der Linken ist derzeit in der Lage, es in die zweite Runde zu schaffen. Ihre Kandidaturen zielen deshalb auch eher auf die nachfolgenden Parlamentswahlen, für die sich jede von ihnen bestmöglich aufstellen will. Bei diesen wird es darauf ankommen, Wahlbündnisse zu schmieden, um den größtmöglichen Erfolg für die Linke zu haben; ein Kriterium dafür ist das Abschneiden im 1.Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. Es gibt ja ein gemeinsames Interesse daran, eine Parlamentsmehrheit zu bekommen, die nicht dem Staatspräsidenten gehorcht. Sie würde dem Parlament mehr Rechte verleihen.
Nun gibt es den bemerkenswerten Versuch, all diesen Spaltungslinien zum Trotz eine linke Einheitsinitiative zu starten – das sind die sog. Vorwahlen von unten (Primaires populaires). Die Initiative dazu kommt von wenig bekannten Menschen aus dem Umkreis der PS und der Grünen. Nach heutigem Stand erklären sich rund zwei Millionen Menschen bereit, solche Vorwahlen zu organisieren.
Als erste hat sich Anne Hidalgo bereit erklärt, sich auf solche Vorwahlen einlassen zu wollen. Vielleicht will sie sich auf diesem Weg elegant aus dem Wahlkampf zurückziehen. Ihr Konkurrent Arnaud Montebourg (ebenfalls von der PS) hat gleichgezogen.
Zugleich ist eine neue Kandidatin dafür auf den Plan getreten, das ist Christiane Taubira. Sie stammt aus Französisch-Guyana und hat dort die linke Partei Walwari gegründet. Sie ist seit 1993 Mitglied der französischen Nationalversammlung und war von 2012 bis 2016 Justizministerin unter François Hollande. Sie hat ihre Kandidatur noch nicht offiziell gemacht, aber es ist klar, dass sie unter den gegebenen politischen Umständen die glaubwürdigste Herausforderin der extremen Rechten wäre. Sie würde auch am stärksten die junge Generation ansprechen, für die Antirassismus ein zentrales Thema ist. Die Kräfteverhältnisse auf Wahlebene könnten sich dadurch insgesamt verschieben.
Das setzt aber voraus, dass PCF, Grüne und Mélenchon ihre Kandidaturen zurückziehen. Bislang sieht es noch nicht danach aus, aber bis April sind ja auch noch vier Monate hin.
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