Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2021

Das neue Buch von Klaus Dörre versucht, Utopie konkret zu machen
von Paul Michel*

Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Hamburg: Matthes & Seitz, 2021. 345 S., 24 Euro

Das neue Buch von Klaus Dörre weckt hohe Erwartungen: «Um wieder Strahlkraft zu besitzen, muss der Sozialismus von seinem dogmatisch erstarrten Anspruch abrücken und wieder zu einer attraktiven Utopie werden», heißt es im Klappentext. Dafür nimmt Dörre ausführlich Bezug auf Pat Devine und David Laibman. Der britische Marxist Pat Devine hatte Ende der 1980er Jahre, in der Zeit der Reformen von Gorbatschow, Grundzüge eines Modells für eine partizipative Wirtschaft, jenseits von Markt und stalinistischer Kommandowirtschaft skizziert. Er nannte dieses System, bei dem der Entscheidungsfindung die Ausregelung der vorhandenen Interessengegensätze vorausgeht, «demokratische Planung auf der Grundlage von vereinbarter Koordination».

Im Kapitel «Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben» arbeitet sich Dörre an einigen wichtigen Schlüsselsektoren der Gesellschaft ab. Hinsichtlich des Finanzsektors kommt er zu der Schlussforderung, dass der Bankensektor in öffentliches Eigentum zu überführen ist. Er bezieht sich dabei auf Reformvorschläge der Ökonomin Grace Blakeley: Einführung einer Finanztransaktionssteuer, eine einmalige Vermögensabgabe für die großen Geldeigentumsbesitzer sowie die Errichtung einer Investitionsbank im Rahmen eines Green New Deal. Investitionspolitik muss sich strikt an ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen ausrichten.
Das sind sinnvolle Einzelmaßnahmen, aber noch weit davon entfernt, schon ein Konzept für die Ausgestaltung eines wie auch immer gearteten sozialistischen Finanzsektors zu sein.
In seinen Ausführungen über den Verkehrssektor vermisse ich bei Dörre eine klare Aussage für eine Verkehrswende weg von der Straße hin zu Bus, Schiene und Fahrrad. Er thematisiert auch nicht, dass dann sicher deutlich weniger Autos und dafür mehr Busse, Straßenbahnen und Züge benötigt werden. Wir brauchen deshalb eine Konversion von großen Teilen der Autoindustrie in diese Richtung. Die Produktion von Bussen, aber besonders von Schienenfahrzeugbau ist bekanntlich weniger automatisiert als die von Pkws – was einen positiven Arbeitszeiteffekt hat. Zu alledem gibt es im Buch keine Aussagen.
Zu Beginn des Kapitels «Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän» stellt Dörre fest: «Der Kapitalismus muss expandieren um zu existieren, und es ist seine erfolgreiche Ausdehnung, die seine Bestandsvoraussetzungen untergräbt.» Er spricht zutreffend von einer «ökonomisch- ökologischen Zangenkrise», in der wir uns befinden. In der Sache ist das nichts anderes als der «fossile Kapitalismus», den Ian Angus, ein kanadischer Marxist, in seinem Buch Im Angesicht des Anthropozäns. Klima und Gesellschaft in der Krise beschreibt. Obwohl Dörre und Ian Angus wohl im Kern dasselbe meinen, schlage ich vor, die weitere Diskussion entlang dem Buch von Ian Angus zuvführen. Ian Angus beschreibt außerordentlich anschaulich, wie der Kapitalismus zum fossilen Kapitalismus wurde.

Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten
«Zumindest die Umrisse einer nachhaltig sozialistischen Gesellschaft müssen so klar wie möglich gezeichnet werden, damit alle wissen, worauf sie sich einlassen, wenn vom Sozialismus der Zukunft die Rede ist.» Hierin ist Dörre unbedingt zuzustimmen. Was er dann aber konkret vorstellt, ist doch sehr bescheiden. Er nennt die «Wirtschaftsdemokratie» – ohne zu erläutern, wie sie konkret ausgestaltet sein soll. Nicht gerade überzeugend, wenn man sich daran erinnert , dass schon in der Weimarer Republik Wirtschaftsdemokratie wenig mehr als schöne Worte war. Die reale Politik der Sozialdemokratie und der ADGB-Führung war nicht darauf angelegt, den Kapitalismus zu überwinden, sondern den Arzt an seinem Krankenbett zu spielen.
Befremdlich ist, was Dörre in Stiftungsunternehmen hineininterpretiert: «Das Stiftungsunternehmen ist ebenfalls eine Form, die dem Prinzip des kollektiven Selbsteigentums bereits unter kapitalistischen Bedingungen Rechnung trägt.» Will Klaus Dörre uns ernsthaft erzählen, dass ZF in Friedrichhafen, Mahle und Bosch in Stuttgart Keimzellen des Sozialismus sind? Die drei großen Autozulieferer in Baden-Württemberg sind allesamt Stiftungsunternehmen. Sie tun sich derzeit vor allem durch heftigen Personalabbau und Betriebsschließungen hervor.
Dörre nimmt positiv Bezug auf den Begriff «Transformationsräte» – einen aktuellen Gassenhauer der IG Metall. Und wieder kein Wort dazu, was sie konkret sein sollen. Ein Blick auf die Webseite des IG-Metall-Bezirks Mitte verrät, was die Gewerkschaft darunter versteht: «Auf Initiative der IG Metall wurde Ende des Jahres 2019 durch Ministerpräsidentin Dreyer der Transformationsrat Rheinland-Pfalz gegründet. Das Gremium setzt sich aus Vertretern der Landesregierung, der Gewerkschaften IG Metall und IG BCE sowie des DGB, der Landesvereinigung der Unternehmerverbände Rheinland-Pfalz (LVU), der Handwerkskammern, der Industrie- und Handelskammern sowie der Bundesagentur für Arbeit zusammen. Im Rahmen dieses Gremiums wird über notwendige Maßnahmen zum Erhalt und Ausbau industrieller Wertschöpfung sowie zur Qualifizierung und Weiterbildung der Beschäftigten beraten.» Ist es wirklich das, was Klaus Dörre bei «Transformationsräten» vorschwebt?

Mitbestimmung oder Bruch?
«Sozialisierung von Großunternehmen – ein notwendiger Bruch» ist ein Kapitel überschrieben. Auch hier wird es arg sozialpartnerschaftlich, sobald Dörre konkret wird. So schreibt er: «Auf der Ebene von Arbeitsprozessen kann an Konzepte einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz angeknüpft werden.» Das klingt doch stark nach Wunschdenken. Zielführender wäre vielleicht, zu Rate zu ziehen, was die Bertelsmann-Stiftung und die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in bezug auf die in der BRD real existierende Mitbestimmung festgestellt haben: «Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 hat in der Praxis, entgegen derzeitigen Befürchtungen, die Eigentumsrechte der Kapitaleigner grundsätzlich nicht eingeschränkt. Die Strategie der Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, wird von ihren Vorständen und Anteilseignern bestimmt und nicht von den Arbeitnehmervertretern.»
Geradezu weltfremd kommt mir der folgende Vorschlag Dörres vor: «So könnten Staatshilfen für private Unternehmen mit Verfügungsrechten für Beschäftigte oder gesellschaftliche Fonds bezahlt werden.» Dahinter steckt wohl die Vorstellung, auf diese Weise könnte Schritt für Schritt den Kapitaleignern die Kontrolle über die Unternehmen aus den Händen genommen werden. Hat er nicht wahrgenommen, wie das bei der Lufthansa lief? Dort hat Lufthansa-Chef Carsten Spohr sehr eindrücklich vorgeführt, wie große Konzerne mit staatlichen Rettungspaketen umgehen. Spohr hat sich strikt geweigert, dem Staat im Gegenzug zur Rettungsspritze von 9 Milliarden irgendwelche Einflussrechte auf die Geschäftspolitik der Lufthansa einzuräumen. Und was sagt der zuständige Minister Peter Altmaier dazu? «Der Staat sollte sich da raushalten, er ist kein guter Unternehmer.» Frage an Dörre: Was soll denn seiner Meinung nach passieren, damit bürgerliche Regierungen sich so verhalten, wie er es wünscht, und machtbewusste Manager sich die Butter vom Brot nehmen lassen?

Es geht auch anders
Wenn es darum geht, die Gesellschaftsstruktur radikal umzuwälzen, ist es nützlich, an bestimmte Erfahrungen andocken zu können, die Anregungen für unser Vorhaben geben können. Leider ist hier Dörres Blickwinkel verengt auf Überlegungen und Modelle linkssozialdemokratischer Provenienz, die sich in der einen oder anderen Form mit der Mitbestimmung zu tun haben. Wichtige konkrete Erfahrungen der Selbstermächtigung, wo Arbeiter:innen auf Betriebsebene oder auf regionaler Ebene in Fabrikräten, mittels Arbeiterkontrolle und Betriebsbesetzungen, oder auch auf Landesebene das Heft selber in die Hand genommen haben, scheinen für Dörre nicht zu existieren. Kein Wort zr Betriebsbesetzung bei FaSinPat (früher Zanón) in Nequem, dem nördlichsten Teil der argentinischen Provinz Patagonien; kein Wort zur Kollektivierung der Betriebe in Katalonien während des «roten Sommers der Anarchie» 1936; kein Wort zur Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien.
Somit hat sein Buch anregende Abschnitte, die inspirieren und Denkanstöße geben, aber auch viel Widersprüchliches und leider auch viele Schwachstellen. Dennoch wäre zu wünschen, dass die gesamte Linke Dörres Buch als Anstoß nimmt, um in diese sicher umfangreiche und wohl anhaltende Debatte einzusteigen. Wie kann eine emanzipatorische, humane, umfassend demokratische, soziale und ökologisch nachhaltige Alternative zum real existierenden Kapitalismus, der sich immer mehr als Katastrophenkapitalismus erweist, aussehen? Es geht um eine Welt, in der nicht die Erzielung einer Maximalrendite, sondern die Förderung menschlichen Wohlbefindens Maß des Handelns ist.
Die notwendige «Neuvermessung der Utopie» ist zweifellos eine Herkulesaufgabe. Wenn wir sie stemmen wollen, bedarf es von allen Beteiligten Bereitschaft zur Kooperation und einen solidarischen Umgang miteinander.

*Der Autor arbeitet mit im «Netzwerk Ökosozialismus». Das Netzwerk nimmt sich vor, Texte von Autoren aus dem englischsprachigen Raum, wo die Debatte entwickelter ist, zu übersetzen und auf https://netzwerk-oekosozialismus.de/ zugänglich zu machen.

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