Übertriebene Prognosen, unschlüssige Erklärungen
von Ingo Schmidt*
Inflationswarnungen sind zum Dauerthema geworden. In Argentinien oder der Türkei wäre das zu erwarten. Dort nähern sich die Inflationsraten der 53- bzw. 20-Prozent-Marke. Hoch erscheint der aktuelle Wert von 4,5 Prozent in Deutschland im Vergleich mit Japan (0,2 Prozent), China (0,7 Prozent), dem Nicht-EU-Nachbarn Schweiz (0,9 Prozent), vielleicht sogar dem Euro-Mitglied Griechenland (2,2 Prozent).
Solche Unterschiede finden in den Medien kaum Erwähnung. Dafür herrscht kein Mangel an Erklärungen: Lockere Geldpolitik, fehlende Arbeitskräfte, Lohn-Preis-Spirale und unterbrochene Lieferketten werden am häufigsten genannt.
Wird beim empirischen Befund gern mal übertrieben, sind die Erklärungen oft unstimmig. Aber immer ist – mal offen, mal zwischen den Zeilen – die Warnung zu hören: Es muss irgendwo gespart werden. Nach unzähligen Ausgabenprogrammen im Zuge der Corona-Pandemie können «wir» – wer immer damit gemeint ist – uns nicht auch noch Programme zum Klimaschutz leisten. Jedenfalls nicht mit sozialer Abfederung.
Empirische Befunde
Eine Inflationsrate von 4,5 Prozent, das gab es zuletzt 1992, als der Einheitsboom auslief. Danach begann eine lange Zeit niedriger Inflationsraten, zumeist zwischen 1 und 2 Prozent. Manchmal auch negativ, wie zuletzt im Oktober 2020. Angesichts sinkender Preise vor einem Jahr ist klar, dass der im langfristigen Vergleich recht beachtliche Anstieg der Inflationsrate einem statistischen Basiseffekt zuzuschreiben ist: Von niedrigen absoluten Preisen ausgehend, errechnet sich selbst aus moderaten Preissteigerungen eine relative hohe Zuwachsrate.
Neben der allgemeinen Inflationsrate errechnen die statistischen Ämter auch eine Kerninflationsrate. Die liegt derzeit bei 2,9 Prozent. Nicht enthalten sind darin die Preise für Lebensmittel und Energie, die saisonal, aber auch über längere Zeiträume, deutlich stärker schwanken als andere Preise des privaten Verbrauchs. Die Inflationsrate für Lebensmittel liegt gegenwärtig mit 4,8 Prozent leicht über der allgemeinen Inflationsrate, erreicht damit aber Werte, die auch im Herbst 2013, 2017 und 2019 erreicht wurden.
Der Ölpreis hat sich gegenüber dem Beginn des ersten Lockdown im April 2020 mehr als vervierfacht, liegt mit aktuell 84 Dollar pro Barrel aber kaum über dem Wert vom Oktober 2018, im Juni 2014 lag er bei 113, im Juni 2008 bei 140 Dollar. Mit 5,60 Dollar pro Million BTU liegt der Gaspreis fast achtmal so hoch wie im April 2020, aber auf dem Niveau des Januar 2014 und deutlich unter den 16,50 Dollar des Juni 2008.
Wie andere Rohstoffe auch, durchliefen die Preise für Öl und Gas einen langen Boom, der um die Jahrhundertwende begann und, nach kurzer, aber heftiger Unterbrechung während der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 bis ins Frühjahr 2014 anhielt. Seither gab es bei den Rohstoffpreisen ein wildes Auf und Ab, darunter im Zuge der Corona-Krise auch seit Beginn des langen Booms nicht mehr gesehene Tiefstwerte. Es gibt aber auch Rohstoffe, bspw. Bauholz, Eisenerz und Magnesium, deren Preise nach einem kurzen Höhenflug wieder gesunken sind.
Im Vergleich zur Zeit des ersten Lockdown im Frühjahr und Sommer 2020 sind die Preise vieler Waren ordentlich gestiegen. Aufgrund des statistischen Basiseffekts erreichen die daraus errechneten Inflationsraten seit den frühen 90er Jahren nicht gekannte Werte. Bei einzelnen Waren und Warengruppen hat es allerdings auch in der Zwischenzeit immer wieder Preissteigerungen wie in den letzten Monaten gegeben. Zudem schwanken die Preise für einzelne Waren sehr stark. Ob es in den nächsten Monaten oder gar Jahren zu einem dauerhaften Anstieg der Inflationsraten kommt, ist umstritten. Hier kommt die Theorie ins Spiel.
Zu viel Geld, zu wenig Güter
Lange Zeit machten Inflationswarner Zentralbanken für steigende Preise verantwortlich. Würde sich der Geldumlauf schneller erhöhen als die Produktionskapazitäten, so ihr Argument, würde das überschüssige Geldangebot dazu genutzt, eine gegebene Gütermenge zu höheren Preisen abzusetzen. Etwas populistischer formuliert: Zu viel Geld jagt zu wenig Güter.
Stichhaltig war dieses Argument nie, weil Unternehmen und Banken sich im täglichen Geschäftsverkehr gegenseitig Kredit geben und dadurch notwendige Zahlungsmittel schaffen können, bei Bedarf auch über das Geldangebot der Zentralbank hinaus. Mitunter, so in den 1970er Jahren, war dieser Bedarf gering. Es gab Überkapazitäten, Arbeitslosigkeit und sinkende Investitionsraten – und trotzdem stiegen die Preise.
Trotzdem waren Klagen über eine allzu laxe Geldpolitik in jener Zeit politisch wirkungsmächtig, sie rechtfertigten eine Politik strikter Inflationsbekämpfung. Können Zahlungsmittel bei Bedarf von privaten Akteuren geschaffen werden, so gilt das umgekehrte nicht: Eine Verteuerung des Geldangebots, der «monetaristische Schock», führte Anfang der 80er Jahre zur Rezession.
Angesichts steigender Zinsen wurden viele Investitionsprojekte unrentabel. Massenarbeitslosigkeit wurde zum Dauerzustand und schwächte die Gewerkschaften soweit, dass die Löhne hinter dem Produktivitätswachstum zurückblieben. Unternehmen konnten ihre Gewinne ohne Preissteigerungen erhöhen. Die Inflationsraten gingen zurück. Und blieben auch dann noch niedrig, waren mitunter sogar negativ, als die Zentralbank zur Eindämmung der Weltwirtschaftskrise 2008 auf eine extreme Ausweitung des Geldangebotes umschalteten und auch nach Überwindung der Krise beibehielt. Bis vor ein paar Monaten gab es trotzdem keine steigenden Preise.
Dennoch ist die Vorstellung, Inflation werde durch die Notenpresse gemacht, zu einem Volksvorurteil geworden, das von vielen Ökonomen, Unternehmenssprechern und Politikern immer wieder bedient wird.
Lohn-Preis-Spirale
Ebenso das Argument, Unternehmen könnten sich angesichts überzogener Lohnforderungen nur durch Preissteigerungen in der Gewinnzone halten. In den 1970er Jahren, als Gewerkschaften genügend Verhandlungsmacht besaßen, um den Beschäftigten ihren Anteil am Produktivitätszuwachs zu sichern oder manchmal sogar auszudehnen, mag das plausibel gewesen sein.
Seit der «monetaristische Schock» einer dauerhaften Verschiebung von Verhandlungsmacht und Einkommen von der Lohnarbeit zum Kapital den Weg bereitet hat, ist das nicht mehr der Fall. Im Zuge des Aufbaus globaler Produktionsnetzwerke wurden die Löhne in den Zentren mit ihren vormals halbwegs verhandlungsmächtigen Gewerkschaften der Konkurrenz aus armen Ländern ausgesetzt.
Das wissen auch die Inflationswarner dieser Tage. Entsprechend beschwören sie auch nicht die Gefahr überzogener Gewerkschaftsforderungen – sondern die Knappheit an Arbeitskräften. Sinkende Geburtenraten und steigendes Durchschnittsalter geistern seit Jahrzehnten als Menetekel durch Forschung, Medien und Politik. Warum sie gerade jetzt, nach ein paar Monaten der Corona-Krise, zu einem lohntreibenden Mangel an Arbeitskräften führen sollen, ist unklar. Zwar sind die Reallöhne zuletzt gestiegen, was für das Drehen an der Lohn-Preis-Spirale zu sprechen scheint.
Ebenso wie die Preise anderer Waren ist aber auch der Preis der Ware Arbeitskraft während der Corona-Rezession erheblich gesunken. Auch bei den Löhnen gibt es also einen Aufholeffekt.
Arbeitsmarktforscher können zwar Wirtschaftsbereiche benennen, in denen Unternehmen derzeit wenig Personal finden. Sie wissen aber nur von einem Teil der in diesen Bereichen vor Corona Beschäftigten, wo diese untergekommen sind. Dass einige zuvor in der Gastronomie Beschäftigte nun für Onlinehändler und Lieferdienste arbeiten, erklärt den realen, vielleicht auch nur behaupteten, Mangel an Arbeitsplätzen nicht. Niedrige Löhne, auf die Gewerkschaften hinweisen, aber auch nicht. Niedrig waren die Löhne schon vor Corona und trotzdem fanden sich genug Leute, für diese Löhne zu arbeiten.
Unterbrochene Lieferketten
Ein Teil dieser Niedriglöhner waren saisonale Arbeitsmigranten. Deren Ein- und Ausreise wurde durch den Lockdown ebenso unterbrochen wie der Transport von Rohstoffen, Zwischen- und Fertigprodukten. Beide sind seither mit erheblichen Unsicherheiten verbunden.
Nachdem das Ende der Pandemie bereits mehrfach verkündet wurde, es dann aber doch eine neue Infektionswelle gab, hat sich erhebliche Unsicherheit ausgebreitet. Immer wieder werden die auf geringe Lagerhaltung und schnellen Transport ausgelegten Lieferketten unterbrochen. Mal fehlt es an Halbleitern, dann an Containern. Da kann man schon mal höhere Preise verlangen. Allerdings für begrenzte Mengen an Waren. Kein Wunder, dass Konjunkturforscher ihre Wachstumsprognosen ein ums andere Mal nach unten korrigieren. Damit sinkt aber auch die Inflationsgefahr.
Sollte die Pandemie eines Tages doch vorüber sein, werden vorher bestehende Lieferketten reaktiviert, ohne dass es zu preistreibendem Mangel kommt. Oder es werden im Zuge zunehmender Handelskonflikte und der Abkehr von weitgehend fossil angetriebenen Produktionsprozessen technologisch und geografisch ganz andere Produktions- und Logistiknetzwerke geknüpft. Mit Inflation hat das eine sowenig zu tun wie das andere.
*Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.
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