Ursachen und Auswirkungen von Inflationsangst
von Ingo Schmidt
Kaum wird in den Nachrichten ein paar Mal von Inflation gesprochen, übersteigt die «gefühlte Inflation» die statistisch ausgewiesenen Preissteigerungen. Wer am Arbeitsplatz, unter Freunden oder in der Familie auf die Lücke zwischen gefühlter und tatsächlicher Inflation hinweist, erntet Misstrauen. Zumindest Verwunderung. Es weiß doch jeder, dass «die» – gemeint sind wohl die Statistiker – nicht die Wahrheit sagen.
Die Angst vor der Inflation verbreitet sich schnell. Sie hat mitunter erhebliche politische und wirtschaftliche Folgen, die wenig mit dem zu tun haben, was die Inflationsgeängstigten erwarten. Inflationsangst führt zu Realitätsverlust. Mit Fakten und Argumenten ist ihr kaum beizukommen.
Historische Erzählungen
Sofern sich in Deutschland überhaupt jemand für Inflationsängste und ihre Auswirkungen interessiert, sind es Historiker und Soziologen. Ihr Ausgangspunkt: Die Hyperinflation von 1923. Ihre Fragen: Wieso sind Ereignisse, die fast hundert Jahre zurückliegen, so tief im kollektiven Gedächtnis verwurzelt? Welchen Einfluss hat diese Erinnerung auf individuelles und kollektives Handeln in der Gegenwart?
Bei der Analyse der Beziehungen zwischen Inflation, kollektivem Gedächtnis und späteren Entwicklungen fällt auf, dass der Kontext fast vollständig verschwindet. Erinnerungen an die Inflation konnten noch Jahrzehnte später aufgerufen werden, selbst unter Nachgeborenen, die die Inflation selbst nicht erlebt haben. Kriegsniederlage, Revolution und Konterrevolution, Spekulationsboom und Stinnes aber sind vergessen oder verdrängt. Ebenso wie der Unterschied zwischen Inflation, einer dauerhaften Steigerung des Preisniveaus bzw. Entwertung des Geldes, und Hyperinflation, bei der die Inflationsrate zunimmt – und das immer schneller, ohne dass die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, wie im Fall des Konjunkturzyklus, die Geldentwertung irgendwann stoppen, geschweige denn umkehren.
Solche Analysen erklären jedoch nicht, weshalb gerade die Inflation sich so tief ins Gedächtnis eingegraben hat. Die Frage wird nicht einmal gestellt. Die Analytiker sind selbst an der Verdrängung des Kontextes beteiligt.
Und noch etwas fällt bei diesen Analysen auf. Die Inflation wird als sehr deutsches Phänomen dargestellt. Die Deutschen sind demnach besonders inflationssensibel. Weshalb ihnen, so darf man entsprechende Texte wohl interpretieren, die Rolle der internationalen Inflationspolizei zukommt.
Entsprechend haben sich Bundesbank und Bundesregierung zeit ihres Bestehens als Stabilitätswächter präsentiert, mit weitgehender Zustimmung des heimischen Publikums, aber oftmals zum Missfallen der Regierungen und Bevölkerungen anderer Länder, zuletzt in der Euro-Krise.
Zweifellos ist die Entwicklung von der Inflation 1923 über die Einführung der Rentenmark bis zur Einführung der D-Mark in Westdeutschland 1948 und Ostdeutschland 1990 eine besondere Geschichte. Sie ist, auch nach Einführung des Euro 2002, Teil des kollektiven Gedächtnisses. Sie prägt den Ton politischer Debatten, teilweise auch deren Inhalt, und ist ideologischer Rohstoff nationaler Konsensbildung. In dieser Hinsicht hat jedes Land seine besondere Geschichte.
Aber es gibt auch eine internationale Geschichte und dazu gehört, dass die Hyperinflation der frühen 1920er Jahre keinesfalls eine deutsche Besonderheit war. Sie trat zeitgleich in Österreich, Ungarn, Polen und Russland auf – alles Länder, die gerade aus den Trümmern feudaler Imperien entstanden waren.
Seit Beginn der neoliberalen Globalisierung in den frühen 1980er Jahren hat eine ganze Reihe von Ländern des globalen Südens Phasen von Kapitalflucht, Abwertung der Währung und Hyperinflation durchgemacht. Den Startschuss zu diesen wiederkehrenden Episoden monetären Chaos’ gab die Schuldenkrise, die 1980 durch die Hochzinspolitik in den USA ausgelöst wurde. Das Ziel dieser Politik – Inflationsbekämpfung. Auch wenn die USA zu jener Zeit – Ölpreisschocks und militante Gewerkschaften hin oder her – weit von einer Hyperinflation entfernt waren.
Strukturelle Ursachen
Wenn Inflation und Hyperinflation zu verschiedenen Zeiten in Ländern rund um den Erdball auftreten, ist es wenig plausibel, nur den Deutschen Inflationsängste anzuhängen. Ebensowenig plausibel ist es, Inflationsängste aus den Besonderheiten der Geschichte eines Landes zu erklären – auch wenn die jeweiligen Landesgeschichten den Ton prägen, in dem solche Ängste ausgedrückt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass Inflationsängste im Kapitalismus, in dem sich bekanntlich alles ums Geld dreht, strukturell angelegt sind und in Ländern, die Perioden sich beschleunigender und vielleicht sogar galoppierender Inflation durchgemacht haben, politisch mobilisierbar sind.
Der Inflation – wie schon dem Geld, dessen Wert von einer Inflation ausgehöhlt wird – haftet etwas Unheimliches an. Im Verteilungskampf zwischen Lohnarbeit und Kapital sind die Fronten klar: Die Lohnerhöhung der einen ist der geringere Gewinn der anderen. Und umgekehrt. Bei der Steuererhebung sind die Fronten noch halbwegs klar: Der steuereintreibende Staat bereichert sich auf Kosten privater Haushalte und Unternehmen. Etwas unklar, genauer: gern verschwiegen, ist die Ausgabenseite öffentlicher Haushalte, über die Geld, öffentliche Dienste und Infrastruktur an die Privaten zurückgegeben wird.
Beim Geld ist alles zugleich völlig klar und unklar. Klar, weil die Reproduktion des individuellen Lebens vom Geld abhängt. Selbst unbezahlte Arbeit im Haushalt oder Kleingartenverein ist vom Kauf von Vorleistungen abhängig. Vor dem Geld sind alle gleich. Es gibt keine Klassenunterschiede mehr, die verbreitete Ideologie der Auflösung feudaler Standes- oder Klassenunterschiede in der Marktgesellschaft der Freien und Gleichen scheint sich zu bestätigen. Paradoxerweise beginnen damit die Unklarheiten und Unsicherheiten.
Zwar wird die Ideologie von der Klassenlosigkeit gern geglaubt – und sei es nur, um sich über die eigene Zweitklassigkeit hinwegzutäuschen –, aber gleichzeitig wissen alle, dass der Unterschied zwischen Bettler und Milliardär nicht nur in einer Handvoll Dollar besteht. Das Wissen um Unterschiede in Reichtum, Macht und der Akkumulation von beiden in den Händen weniger ist für die Vielen unbehaglich – aber zugleich ein Orientierungspunkt, um sich in einer entsprechend strukturierten Gesellschaft zurechtzufinden. Inflation, zumindest wenn sie sich immer mehr beschleunigt, macht diese Orientierung schwierig.
Geldvermögen, die nicht rechtzeitig ins Ausland transferiert werden, das hoffentlich über eine stabile Währung verfügt, verlieren über Nacht ihren Wert. Gutbetuchte können zu Bettlern werden. Gleichzeitig können sich gewiefte Habenichtse riesige Vermögen zusammenspekulieren – aber auch wieder verlieren, wenn sie die in Inflationsgeld erworbenen Reichtümer nicht rechtzeitig in Sachwerte oder stabile Auslandswährung tauschen.
Praktische Folgen
Im Moment ihres Verschwindens wird die wertbildende Rolle der Arbeit erkannt. Im kapitalistischen Normalzustand scheint Geld mehr Geld zu produzieren. Geld ist produktiv. Wer keins hat darf zumindest hoffen, durch harte Arbeit und Sparen nach oben zu kommen. Mit sich beschleunigender Inflation geht auch diese Hoffnung verloren.
Mit dem Geldwert brechen auch die moralischen Werte zusammen, die ansonsten zur ideologischen Reproduktion des Kapitalismus beitragen. Sie werden aber nicht automatisch durch einen anderen, handlungsleitenden Wertekanon ersetzt. Wenn die Inflation zur Hyperinflation wird, stehen die 99 Prozent vor dem Nichts. Wer es nicht selbst erlebt hat, weiß nichts von der Tiefe des Zusammenbruchs, kann sich aber vorstellen, dass man ihn besser vermeidet.
Geld ist unheimlich, die Aussicht auf den Verlust des Geldwerts beängstigend. Auch, oder gerade, wenn man nicht viel davon hat. Angst ist kein guter Ratgeber. Sie macht für eine Politik der Inflationsabwehr empfänglich, selbst wenn die Inflationsraten niedrig sind und eine Beschleunigung der Geldentwertung nicht zu erwarten ist. In solchen Fällen trägt die im Namen der Inflationsbekämpfung betriebene Politik mehr zum Verlust von Einkommen und Ersparnis am unteren Ende der sozialen Leiter bei als die Inflation selbst – durch Kürzung von Löhnen, Sozialleistungen und öffentlichen Diensten. Und durch die Erhöhung der Preise einzelner Güter und Dienstleistungen, in den letzten Jahren insbesondere der Mieten. Darüber ärgern sich die Leute auch. Aber den Kampf gegen Miethaie zu organisieren ist ungleich schwieriger, als Inflationsängste zu schüren.
*Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.