Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2021

Das neue Arbeitskampfkonzept hat sich voll ausgezahlt
von Violetta Bock

Viele haben im Herbst nach Berlin geblickt. Nicht nur wegen des Volksentscheids zur Enteignung großer Wohnungskonzerne, sondern auch wegen des über vier Wochen andauernden Erzwingungsstreiks zur Entlastung der beiden größten Krankenhäusern Berlins. Ein Leuchtturm sollte geschaffen werden für Arbeitskämpfe im Gesundheitswesen, und darüber hinaus.

Die Tarifauseinandersetzung war auch ein Lackmustest für Ver.di, ob die Gewerkschaft das Versprechen hält, den Arbeitskampf in die Hände der Beschäftigten zu legen und das bis zu einem guten Ergebnis durchzuhalten, oder ob sie frühzeitig einknickt, und sei es auf Kosten der Beschäftigten bei den Töchtern. Doch auch bei letzteren kam es Ende Oktober zu einem Eckpunktepapier, dem bei zwei Gegenstimmen und sechs Enthaltungen 68 Teamdelegierte mit großer Mehrheit zustimmten. Den Test hat Ver.di also bestanden, und das gibt Hoffnung und jede Menge Erfahrungen für Kämpfe an anderen Orten. Was lässt sich also lernen?

Entlastung als Ziel
Zuerst einmal kann festgehalten werden, dass es sich erneut bewährt hat, auf die qualitative Forderung «Entlastung durch Personalbemessung» zu setzen, die direkt an den Problemen im Arbeitsalltag ansetzt, um Bewegung in den Sektor zu bringen. Streiks an Krankenhäusern sind inzwischen normal, vor Jahren waren sie noch für viele undenkbar. Moritz Lange, der als Gewerkschaftssekretär der IG Metall die konfliktorientierte, strategisch durchdachte Organizing-Kampagne bei Ver.di und natürlich auch den Zuwachs um mehr als 2000 Mitglieder verfolgt, bringt dies in einem Interview im Freitag mit Jörn Boewe gut auf den Punkt: «Ich denke, wenn man eine Forderung hat, die wirklich das Leben verändern würde, gibt es diese Chance auf eine unerwartet machtvolle Bewegung.»
Bemerkenswert ist auch, dass es nicht nur um die Kernbelegschaften ging. Der Kampf bei Charité und Vivantes wurde gemeinsam mit den Beschäftigten in den ausgelagerten Töchtern geführt: den Reinigungskräften, dem Küchenpersonal, den Instandhalter:innen, um die Lohnlücke von mehreren hundert Euro durch Angleichung an den TVöD zu schließen. Sie erhalten neben einer Corona-Prämie von 1500 Euro nun ab 2022 mindestens 85 Prozent des TVöD Lohnes, bis 2025 in den Reha-Einrichtungen und bei Technik und Bau schrittweise 96 Prozent, in den anderen Gesellschaften 91 Prozent. Der Manteltarifvertrag, in dem etwa Urlaub und Jahressonderzahlungen geregelt sind, wird mit einzelnen Ausnahmen übernommen.

Langer Atem
Nicht unterschätzt werden darf, welch langen Atem es braucht, die passenden Instrumente für eine wirksame Entlastung zu finden. Sie wurden entwickelt und Haus für Haus nachgebessert – inzwischen gibt es bundesweit 18 Entlastungstarifen. Julia Dück zeichnet in einem Artikel in der Zeitschrift Luxemburg nach, wie Ver.di, ausgehend von Berlin über Jena und Mainz bundesweit als lernende Organisation voranschritt. Im Ergebnis gibt es einerseits die Zusage der Krankenhauskonzerne, in den nächsten drei Jahren 1200 Pflegekräfte bei Vivantes und 700 bei der Charité zu rekrutieren. Um dies abzusichern, werden über ein Punktesystem Konsequenzen festgehalten, die über die Jahre zunehmen. Sollte die Personaluntergrenze, die für die verschiedenen Bereiche wie OP oder Zentrale Notaufnahme ausgehandelt wurden, unterschritten werden, gibt es Entschädigungen, bspw. durch Erholungsbeihilfen, Zuschüsse zur Kinderbetreuung oder einen Freizeit- bzw. Geldausgleich. Die Hebammen konnten so quasi eine 1:1-Betreuung durchsetzen, statt drei oder vier Geburten gleichzeitig zu begleiten.

Macht nach innen und außen
Der lange Atem wurde aber nicht nur gebraucht für die wirksame Umsetzung der Forderungen, sondern auch für den Aufbau der eigenen Stärke und der Entfaltung der eigenen Macht. So galt es einerseits, dem Gegner durch verschiedene Stärketests Macht und Geschlossenheit zu demonstrieren. Eine Petition mit den Forderungen hatten im März 63 Prozent der Beschäftigten unterschrieben. Im August folgten die Wahl von Delegierten pro Team, die Abstimmung der Forderungen im Fußballstadion des 1.FC Union und schließlich eine Umfrage zur Streikbereitschaft.
Andererseits wurde so Macht auch nach innen spürbar. So beschreibt Louise, eine Intensivpflegekraft an der Charité, in einem Gespräch mit Fanni Stolz in der Zeitschrift Luxemburg, wie man schon in der Ausbildung lernt, die erlebten Missstände stillschweigend für sich zu behalten, und am Ende gar nicht mehr merkt, was falsch läuft. Erst der intensive Austausch in 1:1-Gesprächen zur Findung der Forderungen und Identifizierung der Hauptanliegen, schuf für viele Kolleg:innen die Möglichkeit, sich als Kollektiv zu verstehen und das Selbstbewusstsein herauszubilden, dass sie die Expert:innen sind: Sie wissen, wie es besser laufen kann und es liegt an ihnen, das durchzusetzen. Ihre Geschichten auf Kundgebungen und im Gespräch mit Presse und Politikern verliehen dem Kampf Legitimität.
Es bestärkte sie dabei die vielfältige Solidarität der Stadtgesellschaft. Die Volksbühne öffnete ihre Türen für eine Pressekonferenz, das Solidaritätsbündnis sammelte mehrere tausend Euro zur Unterstützung der Streikenden. Es erfordert außerdem eine Gewerkschaft, die das mitmacht. Mit 30 hauptamtlichen Organizer:innen, verteilt auf die verschiedenen Standorte, und zahlreichen Trainings hat Ver.di die Organisierung erheblich unterstützt. Vor allem hat sie den Rahmen dafür geschaffen, dass die Beschäftigten über den Kurs und das Ergebnis entscheiden konnten, erläuterte McAlevey im Freitag. Ganz offene Verhandlungen mit allen Beschäftigten wie bei den Vorbildern in den USA waren es zwar noch nicht, aber es gab eine sehr enge Rückkopplung zwischen der hauptamtlichen Verhandlungsführung und der Tarifkommission mit allen Teamdelegierten. So betont Silvia Habekost von Vivantes, dass die Tarifkommission in den zum Teil über 20stündigen Verhandlungen nie allein war. Die Teamdelegierten waren immer in der Nähe und konnten mit ihrem Wissen bei jedem Verhandlungsschritt direkt Feedback geben.

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