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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2021

Die nächste Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst will betriebliche Streiks und ­Frauenstreik miteinander verbinden
Gespräch mit Ariane Raad

Der Tarifkampf im Sorgebereich im kommenden Frühjahr will ein gesamtgesellschaftlicher Streik sein. Darüber sprachen wir mit Ariane Raad, Gewerkschaftssekretärin bei Ver.di im Bezirk Stuttgart für den Fachbereich Gemeinden und aktiv in der AG Feministische Lohnarbeitskämpfe.

Im nächsten Jahr findet die Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE) statt. Um was geht es?

Bei der Tarifauseinandersetzung wird es um drei Bereiche gehen: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel und eine finanzielle Anerkennung für die Sozial- und Erziehungsberufe.
Ver.di hat den Tarifvertrag Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die Eingruppierungsmerkmale gekündigt. Die Eingruppierung bestimmt darüber, wie ich als Beschäftigte mit einem bestimmten Berufsabschluss – z.B. Erzieherin mit staatlicher Anerkennung – und einer entsprechenden Tätigkeit – z.B. Gruppenleitung in einer Kita – zu meinem Gehalt komme.
Die Forderungen von Ver.di sind in elf Punkten zusammengefasst. Grob zusammengefasst geht es darum, dass die Kolleg:innen mehr Zeit für fachliche Tätigkeiten bekommen, die für die direkte Arbeit am Kind oder an der Klientin notwendig sind; dass Kolleg:innen, die ausbilden und einarbeiten, mehr Geld und mehr Zeit erhalten; und dass die Berufserfahrung der Fachkräfte beim Arbeitsplatzwechsel nicht verloren geht. Bei der finanziellen Aufwertung geht es darum, dass die Arbeit an Menschen nicht weniger wert ist als das Zusammenschrauben von Autos.
Die Tarifrunde der Sozial- und Erziehungsdienste geht also deutlich über die klassischen Forderungen einer Gehaltsrunde hinaus und hat eine wichtige gesellschaftliche Komponente: Sie soll den Kolleg:innen, die in der sozialen Arbeit unter oft widrigen Bedingungen den Laden am Laufen halten, bessere Arbeitsbedingungen und ein Gehalt ermöglichen, das gute Lebensgestaltung und eine Rente sichert. Nur so kann der Fachkräftemangel in diesen Berufen abnehmen und die Dauersorgekrise im System beendet werden. Darüber hinaus geht es aber auch um die Sorgearbeit, diese typisch weibliche Arbeit, die unverzichtbar ist, aber strukturell geringgeschätzt wird.

Wie laufen die Streikvorbereitungen, was wird diesmal anders sein als 2015?

Wie laufen Streiks unter Pandemiebedingungen? So gut und kreativ sie können! Die Kolleg:innen haben schon in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst im Herbst 2020 gezeigt, wie wütend sie darüber sind, wie mit ihnen in der Pandemie umgegangen wird. Sie haben weitergearbeitet, oft ohne Schutz und ohne Rückhalt von Politik und Arbeitgebern. Sie haben auch neue Streikstrategien erprobt, weil sie kreativer werden mussten, darauf können wir aufbauen. Aber gerade in den Kitas, Horten, Jugendämtern und den Behindertenhilfeeinrichtungen sind viele erschöpft und gleichzeitig wütend.
Daher müssen wir kräfteschonend und effektiv mobilisieren, bisher läuft es regional sehr unterschiedlich an. Viele Beschäftigte sagen aber: «Jetzt erst recht! Wir sind nicht nur systemrelevant, sondern ohne uns hat das System keine Relevanz mehr.» Da hat die Debatte während Corona geholfen. Aber insgesamt läuft die Streikvorbereitung ganz anders als 2015. Aufgrund der pandemischen Lage muss vieles digital geschehen und einiges werden wir auch dezentraler, regionaler und näher an der Arbeitsstelle der Beschäftigten organisieren, um möglichst wenig direkte Kontakte in größeren Zusammenkünften zu haben.
Gleichzeitig gehen die Kolleg:innen mit mehr Selbstbewusstsein in die Auseinandersetzung 2022, weil sie noch Kraft schöpfen aus den Erfahrungen 2015, manche auch noch aus 2009 [als der Gesundheitstarifvertrag erstreikt wurde] – trotz Kritik am Ergebnis. Wer weiß, dass sie oder er vier Wochen Streik durchhalten kann, wer ohne ausreichenden Schutz mehrere Corona-Wellen überstanden hat, der ist nicht so leicht aufzuhalten. Zudem haben wir in den letzten Jahren viele neue Beschäftigte, insbesondere Jüngere dazu bekommen, die noch nicht so viel mit Gewerkschaft zu tun hatten. Sie haben eine besondere Motivation, denn was jetzt erstreikt wird, begleitet sie noch viele Jahre im Berufsleben.
Anders als 2015 werden wir unsere Streiks unvorhersehbarer gestalten und viele verschiedene, gesellschaftlich relevante Gruppen enger in die Tarifauseinandersetzung einbeziehen – z.B. Elternverbände und feministische Bündnisse. Wir versuchen die Kommunikation nach allen Seiten, insbesondere über Social Media zu verbessern und ein größeres gesellschaftliches Bild zu zeichnen. Durch das Angebot der Ver.di-Bundesebene, «Tarifbotschafter:in» zu werden, die direkt mit Infos versorgt wird, möchten wir die Mitglieder befähigen, die Mobilisierung vor Ort selbst in die Hand zu nehmen.

Im SuE-Bereich arbeiten viele Frauen, und es geht um die gesellschaftliche Anerkennung von Sorgearbeit. In den letzten Jahren war die Zusammenarbeit zwischen Frauenstreikbündnissen und Gewerkschaften dennoch oft kein Selbstläufer. Wie ist das diesmal?

Auch diesmal wird es kein Selbstläufer, dafür sind wir kulturell leider noch zu weit auseinander.
Es ist schwer, sich einen Überblick zu verschaffen, aber die Bemühungen von allen Seiten, mehr aufeinander zuzugehen ist vielerorts spürbar, und überregional wie regional werden konkrete Unterstützungspläne geschmiedet. Selbst der kleinste Schritt ist wichtig, denn darauf können wir in zukünftigen Kämpfen aufbauen.
Das Ver.di auf eine Unterstützungskampagne setzt, ist neu und ein wichtiger Schritt, um diesen Kampf als einen gesellschaftlichen zu deuten. Auf der Homepage «Sozial- und Erziehungsberufe – Ver.di» können sich alle solidarisch erklären und sich regional vernetzen lassen.
Der 8.März wird ein zentraler Aktionstag werden, an diesem Tag wird die feministische Bewegung mit den Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst gemeinsam auf die Straße gehen, das ist ein Fortschritt und ein ganz praktisches Beispiel dafür, dass die Verbindung von feministischen und betrieblichen Kämpfen möglich ist. Wir verstehen uns als Teil dieser Kämpfe und versuchen, einen konkreten Beitrag zu leisten.

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