Die Netflix-Serie kennt keine kollektive Gegenwehr
von Manfred Dietenberger
Squid Game, ist das nicht die Serie mit den brutalen Kinderspielen? Ja und nein: In dem in aller Welt alle Verkaufsrekorde brechenden Netflix-Hit geht es darum, wie hunderte hochverschuldete Menschen in lebensgefährlichen Spielen um die Hoffnung auf ein weniger auswegloses Leben ums Verrecken kämpfen.
In Squid Game, dem Tintenfisch-Spiel, kämpfen 456 Spieler:innen auf der schematischen Grundlage von Kinderspielen und Realkapitalismus auf einer verlassenen Insel. Am Ende kann nur eine Person die Insel mit der Summe von 45,6 Milliarden Won verlassen.
In der Serie sind nicht die Spiele als solche interessant, sondern die Menschen, die in ihrer Verzweiflung an diesem Brutalo-«Spiel» teilnehmen, um ihrem alten Leben zu entkommen. Sie spielen mit, obwohl sie wissen: Wer verliert, wird disqualifiziert, was in der Welt von Squid Game bedeutet, er wird liquidiert.
Die Spielidee ist schnell erzählt. Ort der Handlung ist eine als Kampfarena dienende Insel, auf der sich superreiche VIPs treffen, um sich auf Kosten der Unterschicht zu amüsieren. Damit es auch richtig spannend wird, säen die Veranstalter des Spiels gezielt Misstrauen, Zwietracht und Hass unter den Spielern (wohl besser: Gladiatoren). Am Ende winkt ein riesiges, mit knapp 33 Millionen Euro gemästetes Schwein, das es zu gewinnen gilt.
Vieles an Squid Game ähnelt dem Alltag von Millionen prekär lebender Menschen in Südkorea und anderswo auf der ganzen Welt. Tief verschuldete Mitglieder der Unter- und Mittelschicht setzen ihr Leben wortwörtlich aufs Spiel, zum Spaß einer stinkreichen Oberschicht.
Ein Beispiel: Der Mitspieler Seong Gi-hun steckt tief in der Schuldenfalle, weil er seinen Job verlor, als der Autokonzern dicht machte, für den er gearbeitet hat. Er und seine Kollegen hatten zwar versucht, sich mit einer Betriebsbesetzung zu widersetzen, doch mit Streikbrechern und brutalem Polizeieinsatz gelang es dem Konzern, die Fabrik zu räumen.
Die Vorlage
Im richtigen Leben spielte sich die Vorlage für diese Spielsequenz im Jahre 2009 ab, als nach monatelangem gewerkschaftlichem Kampf um die südkoreanische Autofabrik Sangyong die Polizei mit einer militärischen Erstürmung die Besetzung des Werks aufbrach.
Der zeitweise hoch verschuldete Drehbuchautor und Regisseur Hwang Dong-hyuk schrieb das Drehbuch für Squid Game schon während der Finanzkrise 2008. Ein Jahrzehnt lang pries er seine Spielidee den verschiedensten Studios wie Sauerbier an. Erst 2019 entdeckte Netflix das darin steckende Gewinnpotenzial: Squid Game kritisiert den Kapitalismus auf äußerst profitable Art.
Um überhaupt eine Chance zu haben, darf kein Mitspieler auch nur ansatzweise an das Gemeinwohl denken, sondern muss alle aufkommenden moralischen und sozialen Bedenken über Bord werfen.
Squid Game unterscheidet sich da nicht vom betrieblichen Überlebenskampf. Wer Charakter hat, verliert meist im Kampf um Karriere und Anerkennung. Wie im richtigen Leben erkennen viele der Gladiatoren von Zeit zu Zeit, dass sie bei aller Konkurrenz auch gemeinsame Interessen haben, und versuchen daher kurzzeitig, Zweckbündnisse einzugehen. Dauerhafte Koalitionen zu bilden und kollektiv zu arbeiten, lassen die Spielleiter jedoch weder im besagten Spiel noch im Unternehmen zu.
Wie in alten Kinderspielen, z.B. Seilziehen oder Völkerball, müssen sich die Verzweifelten gegen ihre Mitspieler durchsetzen. Jeder Verlierer wird sofort von maskierten Wächtern eliminiert, sprich: niedergemetzelt. Das Spiel gerät so schnell zum Massaker. Trotzdem wird weitergespielt, bis die Mehrheit endlich beschließt, aufzuhören.
Auch wenn es oberflächlich anders scheint, bleiben die Spieler nicht wirklich freiwillig in diesem mörderischen Spiel. Obwohl sie die Möglichkeit haben, aus dem Spiel auszusteigen, machen sie weiter und riskieren lieber ihr Leben, als weiter in ihrer realen Zinsknechtschaft zu verbleiben. Sie haben ihr prekäres Leben satt.
Hwang Dong-hyuk zeigt diese Ungleichheit schonungslos, brutal. Aber die Protagonisten in seiner Kapitalismusparabel lässt er allein – bis auf einen kurzen Moment, wo er ihnen einen gemeinsam Ausbruch gestattet –, ohne ihnen die Vorstellung einer gemeinsamen Alternative anzubieten.
Anders die 80.000 demonstrierenden Mitglieder des südkoreanischen Gewerkschaftsbundes KCTU Mitte Oktober 2021. In vielen Städten des Landes war ihr Protest laut hör- und sichtbar. Trotz Pandemie sind sie dem Aufruf ihrer Gewerkschaft zum landesweiten Streik gefolgt. Dazu hatten sie wirklich allen Grund. Denn zu ihrer «Alltagsnormalität» gehören überlange Arbeitszeiten und Hungerlöhne. Ihre Lage ist so katastrophal wie die Gesundheitsversorgung des Landes. Neben vielen roten Fahnen trugen die Demonstrierenden Schilder und Transparente mit Forderungen wie: «Zerschlagt die Ungleichheit!» «Ungleichheit raus!»
Anders auch die Führung der KCTU. Die fordert die Abschaffung der «irregulären Arbeit», also Teilzeit- und Zeitarbeit mit minimaler oder ohne Sozialversicherung, und sie fordert die Ausweitung des Arbeitsschutzes auf alle Beschäftigte, darüber hinaus die Mitsprache der Arbeitenden bei wirtschaftlichen Entscheidungen sowie die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und die Vergesellschaftung so elementarer Dienstleistungen wie Bildung und Wohnen.
Die Einlösung dieser Forderungen würde diesem Spiel allerdings den Boden entziehen. In einer solchen Gesellschaft wäre auch kein Platz für Millionäre.
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