Der Ölreichtum fließt in den Westen und hinterlässt ein Armenhaus
Interview mit Ainur Kurmanow*
Das russische Onlineportal Zanovo-media hat ein Interview mit Ainur Kurmanow über die jüngsten Revolten in Kasachstan veröffentlicht. Es wurde vom Online-Portal lefteast.org ins Englische übersetzt und durch Hintergrundinformationen ergänzt. Ainur Kurmanow ist ein Leitungsmitglied der Sozialistischen Bewegung Kasachstans.
Kasachstan ist eines der größten postsowjetischen Länder. Scheinbar reibungslos hat sich in den 90er Jahren die ehemalige Partei- und Sowjet-Führungsriege in eine kapitalistische Oligarchie mit «asiatischem Gesicht» umgewandelt. Kasachstan hat ein rohstoffbasiertes Kapitalismusmodell aufgebaut. Große Reserven an natürlichen Ressourcen, einschließlich Öl, und das aus der sowjetischen Ära geerbte Industriepotenzial haben das ermöglicht. Oberflächlich betrachtet war das auch für die Durchschnittsbürger attraktiv: hohes wirtschaftliches Niveau, Vorhandensein formaler demokratischer Merkmale sowie wenig Beschränkungen für kulturelle Einflüsse aus dem Westen.
Am 2.Januar 2022, brachen Massenproteste aus. Der Grund dafür war die Verdoppelung des Preises für Flüssiggas für Autos von 60 auf 120 Tenge pro Liter [von 0,12 auf 0,24 Euro]. Die ersten nicht genehmigten Demonstrationen begannen im Westen Kasachstans, in der Region Mangghystau, dem Kernland der großen Ölförderunternehmen. Hier befindet sich Schangaösen, wo vor zehn Jahren ein Arbeiterstreik brutal niedergeschlagen wurde, dabei wurden 15 Streikende getötet und hunderte verletzt.
Am nächsten Tag, dem 3.Januar, fügten die Demonstrierenden neue soziale und politische Forderungen hinzu: Senkung der Lebensmittelpreise, Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit, Lösung des Problems der Trinkwasserknappheit sowie Rücktritt der Regierung und der lokalen Behörden. An diesem Tag begannen sich auch Demonstrierende auf den Straßen von Almaty, der Hauptstadt Nur-Sultan und anderen Städten zu versammeln. In einer Reihe von Orten wurden Straßen blockiert, die Demonstrationen lösten sich auch in der Nacht nicht auf.
Am 4.Januar, kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. In Almaty setzten die Sicherheitskräfte Blendgranaten ein, im Gegenzug warfen die Demonstrierenden Polizeiautos um. Am Abend des Tages funktionierten das mobile Internet, Messenger und soziale Netzwerke nicht mehr.
Die kasachischen Behörden versuchten zunächst, die Gaspreiserhöhung damit zu erklären, dass der Preis nun durch elektronische Ausschreibung ermittelt werde. Sie sagten: «Der Markt hat entschieden.» Die Verwaltung der Region Mangghystau erklärte nachdrücklich, alles bewege sich im Rahmen der modernen Marktwirtschaft, der vorherige Preis werde nicht wieder eingeführt.
Doch am 4.Januar sah sich die Regierung gezwungen, den Gaspreis im Gebiet Mangghystau auf 50 Tenge pro Liter zu senken. Der kasachische Präsident, Kassym-Schomart Tokajew, erklärte, die übrigen Forderungen der Bevölkerung würden gesondert geprüft. Am 5.Januar wurde das Ministerkabinett entlassen, der Direktor der Gasverarbeitungsanlage in Schangaösen verhaftet.
Ein Armenhaus
Der Co-Vorsitzende der Sozialistischen Bewegung Kasachstans, Ainur Kurmanow, sagte dazu im Interview mit Zanovo-media:
«Die Arbeiter:innen in Schangaösen waren die ersten, die sich erhoben haben. Die Erhöhung des Gaspreises war nur der Auslöser für die Proteste. Schliesslich hat sich seit Jahren ein Berg an sozialen Problemen aufgestaut. Im vergangenen Herbst wurde Kasachstan von einer Inflationswelle heimgesucht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Region Mangghystau viele Produkte importiert werden und dadurch sowieso schon immer zwei- bis dreimal teurer sind als anderswo. Der Westen des Landes ist zudem eine Region mit hoher Arbeitslosigkeit. Im Zuge der neoliberalen Reformen und der Privatisierung wurden dort die meisten Unternehmen geschlossen. Der einzige Sektor, der hier noch arbeitet, sind die Firmen, die Öl fördern. Sie befinden sich jedoch größtenteils im Besitz von ausländischem Kapital. Bis zu 70 Prozent des kasachischen Öls werden in westliche Märkte exportiert, auch der größte Teil der Gewinne geht an ausländische Eigentümer.
In die Entwicklung der Region wird praktisch nicht investiert, sie ist ein Armenhaus. Im vergangenen Jahr haben diese Unternehmen zudem eine gross angelegte Rationalisierung eingeleitet: Arbeitsplätze wurden gestrichen, die Arbeiter:innen verloren ihre Gehälter und Prämien, viele Unternehmen haben sich in reine Dienstleister verwandelt. Als Tengiz Oil in der Region Atyrau 40000 Beschäftigte auf einmal entließ, war das ein echter Schock für ganz Westkasachstan. Der Staat tat nichts, um die Massenentlassungen zu verhindern. Dabei ernährt ein Ölarbeiter fünf bis zehn Familienmitglieder. Die Entlassung eines Arbeiters verdammt automatisch die ganze Familie zum Hungertod. Es gibt hier keine anderen Arbeitsplätze als die im Öl- und davon abhängigen Sektoren.
Es gibt eine enorme soziale Ungleichheit. Die «Mittelschicht» ist ruiniert, die Realwirtschaft zerstört. Die ungleiche Verteilung des Sozialprodukts hat viel mit Korruption zu tun. Die neoliberalen Reformen haben das soziale Auffangnetz fast völlig aufgelöst. Deshalb ist diese Revolte in vielerlei Hinsicht auch eine antikoloniale.
Die Ursachen für die aktuellen Proteste liegen in der Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus: Der Preis für Flüssiggas ist im elektronischen Handel wirklich gestiegen. Die Monopolisten, die das Gas ins Ausland exportieren, haben Absprachen getroffen, die zu einer Verknappung von Gas und dem folgenden Anstieg der Gaspreise auf dem heimischen Markt führten. Sie haben die Unruhen also selbst provoziert. Doch richtet sich die derzeitige soziale Explosion gegen die gesamte Politik der kapitalistischen Reformen der letzten 30 Jahre und deren zerstörerische Ergebnisse.»
In der Nacht vom 3. auf den 4.Januar begann in den Betrieben von Tengiz Oil ein wilder Streik, der bald auf benachbarte Regionen übergriff. Heute hat die Streikbewegung zwei Zentren: Schangaösen und Aktau. Kurmanow beschreibt die Lage so:
«Das ist kein Maidan, auch wenn viele Analytiker versuchen, es so darzustellen. Woher kommt die erstaunliche Selbstorganisation? Sie kommt aus der Tradition der Arbeiter. Seit 2008 wird die Region Mangghystau von Streiks erschüttert. Auch ohne jedes Zutun der KP oder anderer linker Gruppen wurde ständig die Forderung nach Verstaatlichung der Ölgesellschaften erhoben. Die Arbeiter sehen einfach mit eigenen Augen, wohin Privatisierung und ausländische kapitalistische Übernahme führen. Die Arbeiterproteste in Schangaösen und Aktau gaben dann den Ton für andere Regionen des Landes an. Die Jurten und Zelte, die die Demonstranten auf den Hauptplätzen der Städte aufstellten, waren keineswegs den Erfahrungen des ‹Euromaidan› entnommen: Sie wurden in der Region Mangghystau bereits während früherer lokaler Streiks aufgestellt.»
Nach allen Seiten offen
«In Kasachstan gibt es heute keine legale Opposition mehr, das gesamte politische Feld ist geräumt. Die KP Kasachstans wurde 2015 als letzte aufgelöst. Nur sieben regierungsnahe Parteien blieben übrig. Es gibt jedoch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen im Land, die aktiv mit den Behörden zusammenarbeiten, um eine prowestliche Agenda zu fördern. Ihre Lieblingsthemen: die Hungersnot der 1930er Jahre, die Rehabilitierung von Teilnehmern der Basmatschi-Bewegung [nationalistische Bewegung in Zentralasien von 1916 bis Mitte der 20er Jahre] und von Kollaborateuren im Zweiten Weltkrieg usw. Sie arbeiten an der Entwicklung einer nationalistischen Bewegung, die in Kasachstan durchweg regierungsfreundlich ist. Nationalisten halten Kundgebungen gegen China und Russland ab, die von den Behörden gebilligt werden.»
Alle Berichte über ein «prosowjetisches» Kasachstan sind ein Mythos. Auch Islamisten, die angeblich hinter den jüngsten Ereignissen stecken, sind in Kasachstan äußerst schwach und schlecht organisiert. Dafür wird die pantürkische Bewegung immer aktiver. Die kasachische Elite hält ihr Hauptvermögen im Westen. Deshalb haben die imperialistischen Staaten absolut kein Interesse am Sturz des gegenwärtigen Regimes; es steht bereits ganz auf ihrer Seite.
«Der Rücktritt Nasarbajews vom Amt des Präsidenten, um den Sicherheitsrat zu leiten, sollte einen Anschein von Demokratie erwecken. In Wirklichkeit behält er die volle Kontrolle über alle Machtbereiche und hat seine Macht noch vergrößert, während er sich gleichzeitig völlig aus der Verantwortung ziehen kann.
Man darf die Protestbewegung nicht idealisieren. Ja, es ist eine soziale Basisbewegung mit einer Vorreiterrolle der Arbeitenden. Aber in ihr sind ganz unterschiedliche Kräfte am Werk, zumal die Arbeitenden keine eigene Partei, keine Klassengewerkschaften, kein klares Programm haben. Die bestehenden linken Gruppen in Kasachstan sind eher Zirkel. In jedem Fall aber werden die Arbeiter:innen gewisse Freiheiten gewinnen und neue Möglichkeiten erhalten, darunter die Gründung eigener Parteien und unabhängiger Gewerkschaften.»
Am Abend des 5.Januar forderte Tokajew einen «friedenserhaltenden» (sprich: polizeilichen) Einsatz der Länder der OVKS (Russland, Belarus, Armenien, Usbekistan, Tadshikistan und Kirgisistan) zur Niederschlagung der Proteste. Die kasachische Führung bezeichnet letztere als Versuch einer Intervention von außen.
*Quelle: https://lefteast.org/a-color-revolution-or-a-working-class-uprising-an-interview-with-aynur-kurmanov-on-the-protests-in-kazakhstan/ (von der Redaktion bearbeitet).
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