Alternativen zur parlamentarischen Versumpfung
von Thies Gleiss*
Die Partei Die LINKE wird von strukturellen Entwicklungen heimgesucht, wie sie früher oder später alle linken Organisationen vor ihr erlebt haben: Parlamentarische Erfolge werden zu materiellen Hindernissen bei der weiteren Entwicklung als linke Partei und gefährden dann auch weitere parlamentarische Erfolge.
Das Verhältnis zwischen wirklicher Verankerung in der Gesellschaft und parlamentarischen Posten gerät in eine Schieflage. Die «parlamentarisch Verankerten» und ihre Mitarbeitenden rutschen immer mehr in den Selbsterhaltungsmodus und verteidigen ihre, oft nur mickrigen, materiellen Privilegien und umgeben sich mit einem Nimbus der Unersetzlichkeit und Wichtigkeit.
Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt. Die große innerparteiliche Auseinandersetzung in der SPD 1900–1914 drehte sich nicht nur um abstrakte programmatische und strategische Fragen, sondern war wesentlich auch ein Machtkampf der parlamentarischen Fraktionen gegen die Partei. Auch der von vielen Zeitzeugen noch heute erlebte Rechtsruck der Grünen zu einer bürgerlichen, mit der CDU um die bürgerliche Führungsrolle konkurrierenden Partei war ein Machtkampf zwischen den Parlamentsfraktionen und ihrem Apparat gegen die programmatisch begründete Partei.
Gewonnen haben in diesen Auseinandersetzungen immer die Fraktionen. Sie modelten in der Folge auch die programmatischen Positionen nach ihren strukturkonservativen Bedürfnissen um. Das hieß dann stets «Realpolitik» gegen «Fundamentalismus», war aber nie etwas anderes als Mitmachen und Privilegien verteidigen gegen die prinzipientreue Verfolgung der politischen Ideen. Diese «Siege» waren immer auch Siege der kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Ideologie, die eigentlich bekämpft werden sollten. Dem Strukturkonservatismus folgt der Opportunismus, der Bürokratisierung folgt die Kapitulation.
In der theoretischen Verarbeitung dieser Probleme hat sich ein breiter «Marxismus des subjektiven Faktors» entwickelt mit bekannten Autor:innen wie Johannes Agnoli, Ernest Mandel, Ellen Meiksins Wood und vielen anderen. Sie bearbeiten – mit durchaus verschiedenen praktischen Schlussfolgerungen – diese «Dialektik der partiellen Errungenschaften» und den Kampf gegen Bürokratisierung, opportunistische Versumpfung im Parlamentarismus und Stärkung der innerparteilichen Demokratie.
Das Drama in der LINKEN ist, dass sie sich seit ihrer Gründung weigert, diesen «Marxismus des subjektiven Faktors» in ihre strategischen Debatten und organisatorischen Entwicklungspläne zu integrieren. Sie hat sich im Grunde bereits als strukturkonservativer Abklatsch der Parteien (vor allem SPD und SED) gegründet, die sie programmatisch und politisch eigentlich überwinden wollte.
Jetzt, nach 15 Jahren realer Partei- und Parlamentarismusgeschichte wird Die LINKE von den Folgen dieser Verweigerung eingeholt. Nach dem schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl 2021 erlebt sie bundesweit das, was auf kommunaler Ebene schon lange regelmäßige Erfahrung ist: Der «Machtkampf» (auch wenn es teilweise um Minimacht geht) zwischen den angeblich realpolitischen Fraktionen und der Partei mit ihren Mitgliedern und Gremien spitzt sich zu. Heute ist ungefähr ein gutes Drittel der 61000 Parteimitglieder der LINKEN irgendwie mit der parlamentarischen Arbeit direkt persönlich verbunden. Das reicht von der topbezahlten Europaabgeordneten bis zum kleinen Mitarbeiter eines entfernt den Fraktionen zuarbeitenden Arbeitskreises, der sich Hoffnung macht, im parlamentarischen Zirkus aufzusteigen. Es brodelt innerparteilich ein Fegefeuer der Eitelkeiten, wo gegenseitiges Misstrauen die dominierende Tugend ist. Vorstände und Parteitage sind schon lange von diesen Machtkämpfen geprägt und entscheiden nicht mehr frei.
Gegenmaßnahmen
Erfreulicherweise verstärkt sich in der LINKEN die Debatte über diese Probleme. Die Strömung «Bewegungslinke» hat ein lesenswertes Handbuch zum Parlamentarismus herausgegeben, und der Parteivorstand hat gerade beschlossen, eine breite Debatte zu organisieren, die bis 2023 Positionen zu wichtigen Forderungen zur Begrenzung des Parlamentarismus erarbeitet.
Da die Alternative nicht heißen kann und soll, auf Teilnahme an Wahlen zu Parlamenten zu verzichten, haben sich seit langem konkrete Maßnahmen herausgeschält, die sehr wirksam wären: Befristung der parlamentarischen Mandate auf höchstens acht Jahre, wie es auch für Parteiämter gilt; keine Ämterhäufungen; Rotation und Pool-Lösungen für die hauptamtlich bezahlten Mitarbeitenden; Trennung von Amt und Mandat: nicht mehr als 20 Prozent der Leitungsmitglieder dürfen gleichzeitig Abgeordnete oder Mitarbeitende von ihnen sein.
Es ist zu hoffen, dass es der LINKEN gelingt, eine solche Selbstreform und Selbstbefreiung aus dem parlamentarischen Sumpf zu organisieren. Das wäre nicht nur gut für sie, sondern vor allem für den weiteren Gang der Klassenkämpfe in Deutschland und der Welt.
*Der Autor ist Mitglied im Bundesvorstand der LINKEN.
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