Die LINKE in Berlin-Neukölln
Gespräch mit Lucy Redler und Ferat Kocak
Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im September vorigen Jahres hat Die LINKE entgegen dem Gesamtergebnis in Berlin und auch dem bundesweiten Trend in drei Wahlbezirken von Neukölln und vier von Friedrichshain-Kreuzberg Stimmen dazugewonnen – teils beachtlich.
Die SoZ-Redaktion wollte wissen, wie das zustande kommt.
Lucy Redler ist seit langem in der LINKEN Neukölln aktiv, war von 2016 bis 2021 Mitglied des Parteivorstands der LINKEN, ist Mitglied im Bundessprecher:innenrats der AKL und aktiv in der SAV. Ihre Hauptthemen sind Mieten, Gesundheit und Antikapitalismus
Ferat Kocak, auf Social Media auch bekannt als @der_neukoellner, ist antirassistischer und antifaschistischer Aktivist, seit kurzem für Die LINKE Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin und Sprecher für Antifaschistische Politik und Klimapolitik
Aus Neukölln hören wir immer wieder: Wir bauen die Partei anders auf und haben deshalb auch Erfolge – zumindest nicht so große Verluste. Was macht ihr in Neukölln anders als in anderen Bezirken von Berlin?
Lucy: Wir machen natürlich nicht alles anders als Genoss:innen in anderen Bezirken, aber ich meine, die Neuköllner Erfolge haben im wesentlichen drei Ursachen:
Erstens ist die Partei seit sehr vielen Jahren im Bezirk aktiv und bekannt. Im Reuterkiez, in dem ich arbeite, stehen wir bspw. mindestens jeden zweiten Montag mit einem Infotisch auf der Straße, egal ob im Januar oder Juni. Die Leute wissen, dass wir nicht wie die anderen Parteien erst kurz vor dem Wahltermin Fähnchen schwenken.
Zweitens versteht sich Die LINKE Neukölln als kämpfender Bezirksverband, der eine Verankerung in sozialen und betrieblichen Bewegungen hat: in antirassistischen Initiativen, bei den Kolleg:innen des Klinikum Vivantes Neukölln, bei Mieterinitiativen u.v.a.
Drittens kommt Die LINKE Neukölln nicht als linke Ergänzungspartei zu SPD und Grünen daher, sondern hat ein eigenständiges antikapitalistisches Profil und das nicht abstrakt, sondern übersetzt in konkrete Vorschläge in den Auseinandersetzungen hier vor Ort.
All das motiviert auch die eigenen Mitglieder. Am letzten Wahlkampf zu den Abgeordnetenhauswahlen und Bundestagswahlen haben sich weit über 150 Mitglieder im Bezirk beteiligt – nicht, um jemandem einen parlamentarischen Posten zu sichern, sondern um durch Kämpfe etwas Grundlegendes zu verändern und die Mandate, die wir erlangen, in diesen Dienst zu stellen. Es macht echt Spaß.
Ferat: Neukölln ist ein Biotop für antikapitalistische Politik. Seit Jahren gibt es hier Mietkämpfe, antirassistische Organisationen und solidarische Kieze, die wir als LINKE unterstützt und teilweise mit aufgebaut haben. Unsere Praxis ist aber auch auf andere Bezirksverbände an anderen Orten übertragbar – und auch wir lernen von anderen. Wir versuchen dauerhaft Mitmachangebote für alle Mitglieder zu schaffen und über den Wahlkampf hinaus für eine andere Politik zu stehen. Die horizontale Struktur mit aktiven Basisorganisationen ist ein weiterer Schlüssel zum Erfolg, viele Genoss:innen haben hier das Gefühl, den Bezirksverband mitgestalten zu können und mit ihren Ideen ernst genommen zu werden. Bei Fragen wie Antirassismus, Enteignung oder in bezug auf die Regierungsbeteiligung der LINKEN hier in Berlin haben wir klare antikapitalistische Positionen. Das erzeugt zwar immer wieder Konflikte mit anderen Teilen des Landesverbands, macht uns aber glaubwürdig und attraktiv.
Wir messt ihr euren Erfolg?
Lucy: Viele von uns verstehen sich als explizite Sozialist:innen und wollen eine konkrete Alternative zum Kapitalismus erkämpfen. In unseren Kampagnen fragen wir uns, ob wir dem Ziel, die Kräfteverhältnisse gesellschaftlich zu verschieben, näherkommen. Der hervorragende Erfolg des Volksentscheids «Deutsche Wohnen & Co enteignen», aber auch die Erfolge der Berliner Krankenhausbewegung stimmen uns optimistisch.
Wir möchten dabei möglichst viele Menschen ermutigen, selbst aktiv zu werden, nur dann können wir etwas verändern. Wir freuen uns, dass 2021 142 neue Mitglieder bei uns eingetreten sind. Und wir freuen uns über die starken Ergebnisse, die wir bei den Abgeordnetenhauswahlen 2021 gegen den Trend erreichen konnten: im Neuköllner Wahlkreis II mit Jorinde Schulz als Direktkandidatin über 30 Prozent und damit das beste Erststimmenergebnis der LINKEN in Berlin; in Neuköllner Wahlkreis I bekam ich das viertbeste Ergebnis von Berlin – beides Westbezirke wohlgemerkt. Die Neuköllner LINKE produziert dabei keine Ich-AGs.
Ferat: Der spürbarste Erfolg war im letzten Jahr tatsächlich die Aktivität im Rahmen von «Deutsche Wohnen und Co. Enteignen». Nur um das mal in Zahlen auszudrücken: Über 50 Leute waren in unserer internen Aktivengruppe aktiv und haben in der heißen Phase über Monate hinweg vier bis fünf Sammelinfostände pro Woche organisiert. Wir haben als Die LINKE Neukölln 6500 Unterschriften beitragen können, unzählige Gespräche geführt und dadurch Mitglieder gewonnen. Überhaupt ist die Mitgliederentwicklung in Neukölln extrem gut, das ist mir mehr wert, als nur auf Wahlergebnisse zu schielen.
Warum meint ihr, machen es nicht alle Bezirke so?
Lucy: Es gibt zum einen – in Teilen – unterschiedliche politische Traditionen, ein unterschiedliches Selbstverständnis. Wollen wir eine Kümmererpartei oder eine einladende kämpfende Partei sein? Es gibt aber auch große inhaltliche und strategische Unterschiede. Teile der Partei wollen mitregieren, komme was wolle. In Neukölln ist die große Mehrheit dagegen, grundlegende Positionen für eine Koalition mit SPD und Grünen zu opfern.
Ferat: Es gibt zarte Keime, die zeigen, dass sich da was ändert. 10 Prozent mehr Nein-Stimmen bei der Abstimmung über den Koalitionsvertrag als noch 2016 sind ein kleiner Hinweis darauf, dass in vielen Bezirken die Unzufriedenheit wächst, nur mitzuverwalten und die unsoziale Politik von SPD und Grünen mitzutragen, um an einigen Stellen ein paar Verbesserungen zu schaffen. Wir federn damit nur die neoliberale Politik ab und verlieren an linker Identität.
Wir sollten vor allen Dingen eine aktivierende und kämpferische Partei sein, Angebote wie Rechtsberatung für Hartz IV oder Solidaritätsangebote für Geflüchtete stehen dem gar nicht entgegen. Ich bringe an dieser Stelle immer das Beispiel einer humanen Abschiebepraxis, die natürlich auch von Flüchtlingsinitiativen positiv bewertet wird und als Erfolg gegen eine SPD verkauft werden kann. Aber sind wir nicht eigentlich gegen jede Abschiebung? An diesem Beispiel wird der Spagat vieler Linker beim Thema Regierungsbeteiligung deutlich.
Ihr seid in unterschiedlichen Strömungen organisiert, arbeitet aber beide im selben Bezirk. Wie klappt eure Zusammenarbeit? Wo setzt ihr unterschiedliche Akzente?
Lucy: Ich finde die Zusammenarbeit klappt sehr gut und ist in den letzten Monaten intensiver geworden. Es gibt in meiner Wahrnehmung unterschiedliche Haltungen oder Betonungen bspw. in der Regierungsfrage. In der Basisorganisation Reuterkiez, in der mehrere Mitglieder bei der Antikapitalistischen Linken (AKL), der SAV und in weiteren Gruppen aktiv sind, haben wir schon im Wahlkampf deutlich gemacht, dass wir angesichts der realen Politik von SPD und Grünen für eine LINKE in der Opposition eintreten und haben auch sozialistische Positionen offensiver vertreten. Es gibt also unterschiedliche Akzente, aber die Zusammenarbeit ist davon geprägt, dass wir die Schnittmengen suchen, die uns einen. Und davon gibt es sehr viel.
Ferat: Die Bewegungslinke, der ich und viele aktive Genoss:innen in Neukölln angehören, unterscheidet sich in den meisten Punkten gar nicht so sehr von der AKL, zumindest nicht in der Praxis. Der Neuköllner Bezirksverband ist insgesamt sehr bewegungsorientiert und antikapitalistisch. Das ist vermutlich die Quelle der guten Zusammenarbeit. Ich denke auch, dass wir als Antikapitalist:innen und Linke nicht ständig auf die Unterschiede, sondern mehr auf die gemeinsamen Ziele schauen sollten.
Die Unterschiede werden erst deutlich, wenn wir uns die Praxis der Netzwerke anschauen, die innerhalb der LINKEN aktiv sind. Lucy hat die SAV genannt, in Neukölln sind auch SOL und Marx21 aktiv. Ich denke, es gibt Unterschiede in der Frage, inwiefern man innerhalb der LINKEN als eigenständiger Akteur in Erscheinung tritt. Marx21 hat wie die SAV auch ein eigenes Magazin, zudem den Marx-is-muss-Kongress und einen eigenen Verlag. Prioritär ist im politischen Alltag aber der Aufbau der LINKEN in sozialistischer Perspektive. In der Regierungsfrage stimmen wir inhaltlich überein, strategisch gibt es hier und da andere Herangehensweisen.
Die Zusammenarbeit klappt im Bezirksverband auch zwischen den Netzwerken sehr gut. Die Mehrheit der Neuköllner Mitglieder ist jedoch in keinem Netzwerk und keiner Strömung organisiert.
Die LINKE geht nun in Berlin in die Regierung. Was heißt das für eure Arbeit vor Ort?
Lucy: Wir sind weiter in vielen Bewegungen dabei. Wenn diese in Gegensatz zur Regierung geraten – das ist jetzt schon absehbar – werden wir weiter an der Seite dieser Bewegungen kämpfen und den Druck innerhalb der Partei erhöhen. Positiv ist, dass sich eine innerparteiliche Vernetzungsgruppe aus Protest gegen die Koalitionsbildung formiert hat. Ich meine, dass die Hauptauseinandersetzung innerhalb der Partei noch bevorsteht, wenn in einem knappen Jahr klar wird, dass die Expert:innenkommission den Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co nicht umsetzen wird. Dann wird die Frage erneut im Raum stehen, ob Die LINKE die Koalition verlässt oder ihre Positionen auf dem Regierungsaltar opfert.
Ferat: Die LINKE Neukölln wird sich weiter für eine bezahlbare, antirassistische und klimagerechte Stadt für alle stark machen. Auch dort, wo es mit der Koalition Reibungen gibt, bleiben wir der Bezirksverband, der manchen Genoss:innen im Senat auf die Nerven gehen wird. Es geht einfach um mehr als um eine Koalition: Es geht um die Umsetzung des Volksentscheids, um die grundsätzliche Frage nach bezahlbarem Wohnen, gegen Verdrängung, gegen Polizeigewalt und für ein lebenswertes, solidarisches Neukölln und Berlin. Wir kämpfen weiter!
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