Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2022

…und hält nicht viel von Mitbestimmung
Gespräch mit Alexander Hähnel

Alexander Hähnel arbeitet seit 2003 bei Amazon in Bad Hersfeld. Er ist seit 2012 Betriebsratsmitglied und seit 2014 BR-Vorsitzender. Violetta Bock sprach mit ihm über die aktuelle Auseinandersetzung zur Vergütung der Wegezeiten und die Mitbestimmung bei Amazon.

Ihr habt schon länger eine Auseinandersetzung mit Amazon wegen der Wegezeiten. Um was geht es da?
Das ist seit 2014 Thema. Damals gab es, initiiert als Unterschriftenliste von Ver.di-Vertrauensleuten, mehrere hundert offizielle Beschwerden beim Betriebsrat. Der sollte für die Bezahlung der Wegezeiten von und in die Pause sorgen. Das sind bis zu fünf Minuten Weg im Produktionsbereich, ebenso wie vor und nach Ende der Arbeitszeit.
Im Schleusenbereich hängen die Stempeluhren, bei denen systemseitig Schwellenzeiten hinterlegt sind. Wenn die Frühschicht z.B. um 6.30 Uhr beginnt und ich innerhalb der Viertelstunde vor 6.30 Uhr einstemple, wird trotzdem erst ab 6.30 Uhr gewertet und die Zeit davor gekappt. Gleiches gilt für die Viertelstunde nach Schichtende. Der Arbeitgeber zahlt nur die komplett vertraglich vereinbarte Arbeitszeit und erwartet, dass der Beschäftigte in dieser Zeit seine Leistung vollumfänglich erbringt, also pickt oder packt oder das tut, wozu er eingestellt wurde, und zwar bis zum Klingeln bei Schichtende.
Unsere Auffassung ist, sobald man diese RFID-Schleuse durchschreitet, ist man nicht mehr frei von Weisungen. Man darf im Produktionsbereich keine privaten Gegenstände bei sich führen, kann bei Schichtende einer Personenkontrolle unterzogen werden und ist damit potentiell Weisungsempfänger. Damit kann das keine Freizeit sein und muss vergütet werden.
Wir haben als Betriebsrat den Arbeitgeber aufgefordert, Abhilfe zu schaffen. Er fand das nicht berechtigt. Also ist das ganze vorm Arbeitsgericht gelandet und ging in zweiter Instanz vors LAG. Dort hieß es, über das Beschwerderecht ist keine Einigungsstelle einzurichten, weil die Frage nach Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie der Verteilung der Pausen ohnehin zwingend der Mitbestimmung unterliegen. Bei Uneinigkeit müsse das eine Einigungsstelle konkret klären.
Nach eineinhalb Jahren Verhandlung, gab es dann den Spruch der Einigungsstelle, dass zumindest die Arbeitszeit beim Durchschreiten der Schleuse beginnt und endet. Der Arbeitgeber möchte sich dem aber nicht beugen und handhabt es wie bisher. Da haben wir eine Einstweilige Verfügung beantragt, in der es festzustellen galt, dass der Arbeitgeber sich an die Betriebsvereinbarung zu halten hat. Daraufhin hat der Arbeitgeber direkt den Spruch der Einigungsstelle angefochten, das sei eine Kompetenzüberschreitung. Der Termin für das Verfahren wird im April sein. Unsere Rechtsauffassung ist, dass wir nur eine Verteilung der Arbeitszeit mittragen können, wenn klar ist, wo die zu verteilende Arbeitszeit beginnt und endet. Anders macht es überhaupt keinen Sinn.
Der Arbeitgeber hätte inhaltlich in dem Verfügungsverfahren sehr schlechte Karten gehabt. Deshalb hat er sich darauf konzentriert, Formalitäten anzugreifen und damit auch Erfolg gehabt. Konkret wurde hinterfragt, ob ich als Vorsitzender korrekt eingeladen hätte, weil ich den Betriebsratsverteiler verwendet habe. Das findet sich auch in der Urteilsbegründung. Der Arbeitgeber bestreitet, dass er wüsste, wer auf diesem Verteiler ist. Das ist sehr bizarr, weil er selber diesen Verteiler nutzt. Das hat natürlich die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die ohnehin schon sehr erschwert war, noch erschüttert. Wir können dem Arbeitgeber da überhaupt nicht mehr trauen.
Aufgrund von Erfahrungen in der Vergangenheit hatte er uns ursprünglich zugesichert, eine Beschlussfassung formell nicht mehr in Frage stellen zu wollen. Aber in diesem Fall ist es ihm politisch offensichtlich so wichtig, dass er alle Register zieht, damit es keine Entscheidung in der Sache gibt, auch wenn die Situation dadurch eskaliert.

Wie geht ihr jetzt weiter vor?
Wir gehen natürlich kollektivrechtlich weiter vor. Eine weitere Möglichkeit ist, dass jeder für sich die Stempelzeiten dokumentiert und die verlorenen Zeiten gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht – und erst bei Nichtvergütung vor Gericht. Ver.di hat dies aufgegriffen. Die Herausforderung ist, dass man das für jeden Monat geltend machen muss, und in den neuen Verträgen ist das nur für die je letzten drei Monate möglich.

Wieso ist Amazon in dieser Sache so stur?
Weil das eine Grundsatzfrage ist. Wenn das an einem Standort Erfolg hat, schafft man auch eine Grundlage für andere Standorte. Amazon ist ja ein sehr zahlengetriebenes Unternehmen. Die können wahrscheinlich genau sagen, wieviel Minuten am Tag den Beschäftigten durch die Lappen gehen und wieviel Amazon dadurch spart. Wenn man das auf alle Beschäftigten an allen Standorten in Deutschland umrechnet, kommt da sicher eine hohe Summe zusammen. Von Beschäftigtenseite blickt man auf Bad Hersfeld und hofft, dass wir als Pioniere voranschreiten und etwas erreichen.

Was bedeutet es allgemein, Betriebsrat bei Amazon zu sein?
Sehr viel Hinterherrennen. Letztes Jahr ging es z.B. um ein Bewertungssystem für die sog. Salaries, das sind die Angestellten. Da hat der Arbeitgeber einseitig etwas elektronisch in die Wege geleitet. Wir haben davon Wind bekommen, gesagt, das ist zu unterlassen, und ein Gerichtsverfahren eingeleitet. Das Problem war, dass die Bewertung schon durchgeführt war, noch bevor das Gerichtsverfahren stattfinden konnte. Dann gab es einen Zeigefinger der Richterin an den Arbeitgeber, weil da eigentlich Mitbestimmungsrechte einzuhalten sind. Daraufhin wurden Verhandlungen aufgenommen.
Der Betriebsrat war sehr konstruktiv, hat viele Termine wahrgenommen, um dann Anfang Januar festzustellen, dass der Arbeitgeber das neue System trotzdem ohne Betriebsvereinbarung eingeführt hatte. Dann ging es wieder vor Gericht. Es war wieder ein Verstoß gegen die Mitbestimmung, aber man kann das rückwirkend nicht verhindern, weil wir keine Zeitmaschine haben.
Das ist ein typischer Vorgang. Ein Großteil der IT-Tools, die bei Amazon laufen, sind nicht mitbestimmt. Die werden einfach verwendet und wir rennen hinterher. Wenn wir irgendwann ein Gerichtsverfahren einleiten, sagt der Arbeitgeber: «Der Betriebsrat hat das doch jetzt schon drei Jahre geduldet», oder er verweist auf parallele Verhandlungen. Da muss man sich dann, um zu einem Abschluss zu kommen, vor Gericht vergleichen, also Kompromisse machen. Denn der Weg durch die Instanzen kann zwei bis drei Jahre dauern.
Das ist immer einen Riesenaufwand und bindet massiv Kapazitäten. Häufig ist man auch in der Zwickmühle. Manche Systeme können nicht abgeschaltet werden, weil sie mehreren Zwecken dienen und dann die Lichter ausgehen würden. Sie dienen zum einen der Warenwirtschaft, aber natürlich bieten sie auch die Möglichkeit, Kontrolle auszuüben. Wir konnten das in Bad Hersfeld etwas abmildern. An anderen Standorten ist es wesentlich schlimmer.
Wir haben eine Verfahrensabrede in der Einigungsstelle IT-Tools abgeschlossen. Die Einigungsstelle läuft seit 2012, das zeigt, wie zäh das ist. Die Abrede untersagt dem Arbeitgeber, personalrechtliche Konsequenzen aus nicht mitbestimmten IT-Tools abzuleiten.
Da wird ja alles getrackt, analysiert und verwertet. In den USA und England gab es automatisierte Kündigungen, wenn man so und so oft schlechtes Feedback bekommen hat.
Dank der Betriebsräte dürfen in Deutschland solche Daten nicht für solche Zwecke genutzt werden. Vor der Gründung des Betriebsrats hieß es alle paar Stunden: «Da geht noch was, mach schneller, du bist heute unter Abteilungsdurchschnitt.» Das ist seit 2013 nicht mehr geschehen, weil wir den Area-Managern untersagt haben, Einsicht zu nehmen. Da kann man zumindest kompletter Rechtlosigkeit ein bißchen entgegenwirken. Aber die großen Themen sind noch lange nicht ausverhandelt.

Wie arbeitet ihr als Betriebsräte bundesweit zusammen?
Wir treffen uns und kommunizieren in einer größeren Runde, das ist ein Erfolg. Ein Konzernbetriebsrat ist aufgrund der rechtlichen Hürden nicht machbar. Damit haben sich schon Professoren befasst. Das wäre auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht sinnvoll, statt etwa bei IT-Tools an jedem einzelnen Standort eine Einigungsstelle einzuberufen. Da hat man als Betriebsrat schon das Gefühl, dass das System darauf aufbaut, die Standorte gegeneinander auszuspielen.
Da wird etwa gesagt: «13 von 17 Standorten haben schon zugestimmt, was verwehrt ihr euch? Wenn wir die einzigen sind, die das nicht können, gehen irgendwelche Projekte woanders hin.» Als der Betriebsrat in Bad Hersfeld mal Einstellungen verweigert hat, wurde eine Abteilung einfach ausgelagert, «weil das Netzwerk dem Standort nicht mehr vertraut». Natürlich bestreitet der Arbeitgeber, jemanden unter Druck setzen zu wollen, es sei das Netzwerk, das entscheidet.

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