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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2022

Ver.di NRW übernimmt den Staffelstab aus Berlin und kämpft für einen Tarifvertrag Entlastung
von Violetta Bock

Bei der Diskussion um die Gesundheitsversorgung stehen derzeit Intensivstationen, Impfpflicht und Corona im Vordergrund. Für eine tatsächliche Verbesserung kämpfen jedoch die Beschäftigten. Ende letzten Jahres blickten viele nach Berlin, als an der Charité und bei Vivantes durch neue Streik- und Verhandlungsmethoden ein Durchbruch für mehr Personal gelang. Der Staffelstab wurde nun an NRW weitergegeben.

Ende Januar stellte Ver.di an den sechs Unikliniken Düsseldorf, Essen, Aachen, Münster, Köln und Bonn der Landesregierung NRW ein Ultimatum. Bis zum 1.Mai 2022 soll es einen Tarifvertrag Entlastung geben, ansonsten gibt es Streik – zwei Wochen vor der Landtagswahl.
Martin Koerbel-Landwehr ist seit 40 Jahren gelernter Krankenpfleger, Personalratsvorsitzender der Uniklinik Düsseldorf, Mitglied der Bundestarifkommission und Vorsitzender des Fachbereichs Gesundheit und Soziales NRW bei Ver.di. Seit Jahrzehnten machen er und seine Kolleg:innen in Düsseldorf eine klare Politik, orientiert an den Interessen der Kolleg:innen vor Ort. So konnten sie Befristungen massiv zurückdrängen. Nun geht es um die Personalbemessung.

Alle auf einmal
Es ist ein Riesenprojekt für Ver.di. Mehrere hauptamtliche Organizer:innen arbeiten daran, die etwa 35000 Beschäftigten zu unterstützen. Schon länger wollen die Beschäftigten Entlastungen durchzusetzen und Krankenhaus für Krankenhaus tariflich nachschärfen. Koerbel-Landwehr schildert: «Das ist so eine Art Staffelstab, den wir uns in Ver.di weitergeben. 2018 haben wir den ersten wirklich größeren Streik durchgeführt, weil die Arbeitgeber das vorher nicht geglaubt haben. Wir haben damit u.a. in Düsseldorf durchgesetzt, dass der Tarifvertrag der Länder (TVL) auch für die Beschäftigten von Tochtergesellschaften gilt. Danach ist in Homburg, Saarland, noch am Vorabend des Streiks eine Vereinbarung abgeschlossen worden; die nächsten Etappen waren dann Mainz und Schleswig-Holstein. Dort war nach der Erfahrung, dass die Menschen bereit sind sich dafür einzusetzen, gar kein Streik, und auch in Jena gab es zwei Tage vor der Landtagswahl eine Verabredung.»
2018 setzten sie in Düsseldorf und Essen mit dem Streik eine schuldrechtliche Vereinbarung für Mindestbesetzungsstandards v.a. in der Pflege durch, allerdings noch ohne Sanktionsmechanismen wie sie 2021 in Berlin erreicht wurden. «Jetzt wollen wir für alle Beschäftigten Mindestbesetzungsstandards – natürlich in der Pflege, aber auch für die Küchenkräfte, für die Transportarbeiter:innen, für die Verwaltungsangestellten, für die technischen Berufe. Deshalb haben wir uns Ende letzten Jahres in den Tarifkommissionen in Essen und Düsseldorf darauf verständigt, die alten Vereinbarungen zu kündigen, und gleichzeitig besprochen, alle sechs Unikliniken gemeinsam auf den Arbeitgeberverband Land einzuwirken, dass es einen Tarifvertrag gibt. Für die Aufbauarbeit haben wir die Tarifrunde Tarifvertrag Länder (TVL) 2021 genutzt, auch in den Betrieben, die damals nicht dabei waren, und haben dadurch annähernd 2000 Mitglieder gewonnen.»
«Das Ergebnis des TVL war ja nicht besonders erfreulich, insbesondere für die Beschäftigten der Unikliniken. Durch den Corona-Bonus gab es zwar ein paar hundert Euro, aber das ist weder ein dauerhaft höheres Gehalt noch eine Entlastung. Wir haben das Ergebnis gemeinsam ausgewertet und gesagt: Jetzt erst recht, jetzt gehen wir in die Auseinandersetzung um die Arbeitssituation. Wir wollen nicht unter den Bedingungen, unter denen wir in den letzten zwei Jahren gearbeitet haben, noch weitere zwanzig Jahre oder bis zur Rente arbeiten.»
So ist es gelungen, in einer Videokonferenz mit 700 Teilnehmer:innen ein Ultimatum zu stellen. «Aktuell sind wir dabei, in den sechs Betrieben eine Mehrheitspetition zu verankern, sprich, wir gehen durch alle Arbeitsbereiche, sprechen mit den Kolleg:innen und versuchen, Mehrheiten für gemeinsame Aktionen zu gewinnen.» Denn selbst wenn den Arbeitgebern insbesondere in Düsseldorf und Essen der Streik noch präsent sein dürfte – Ver.di wappnet sich für die nächsten Schritte.

Erst das Ziel, dann die Forderungen
«Wir wollen möglichst wie in Berlin Sanktionen durchzusetzen, das heißt bei Nichterfüllung der Mindestbesetzung entsprechende Entlastungstage absichern. Vorrangiges Ziel ist zuerst mal, neue Arbeitsplätze zu schaffen und darüber Entlastung zu erreichen. Das wollen wir tariflich noch besser abgebildet bekommen, damit wir am Ende nicht lauter Springer im Betrieb haben.»
Schon 2018 wurden für Düsseldorf und Essen je 180 zusätzliche Stellen vereinbart. Daraufhin wurde erstmalig wieder im Transport und im Handwerk eingestellt. «Aber jetzt muss der Schub größer sein. Wir reden an jedem Standort von mehreren hundert notwendigen, zusätzlichen Beschäftigten. Um den Druck zu erhöhen, zielen wir auf persönliche Ansprüche des einzelnen: Wenn du (der Arbeitgeber) nicht für Entlastung sorgst, dann krieg ich nach fünf Belastungsschichten eine Schicht frei und dann musst du eben gucken, wer die Arbeit in dieser Zeit macht.»
Neben dem Aufbau betrieblicher Stärke geht es um die Ausformulierung, was Entlastung in den Arbeitsbereichen konkret bedeuten würde. «Deswegen brauchen wir die hundert Tage, weil der Prozess, Betroffene selber in die Forderungsentwicklung einzubeziehen, nicht von heute auf morgen machbar ist – anders als bei klassischen Tarifrunden, wo die Tarifkommission eine Forderung von 6 Prozent beschließt und dann geht es los.
Wir gehen andersherum vor. Wir fordern Entlastung für alle und alle zusammen entwickeln die Forderung nach dem Prinzip: Wie sieht denn konkret Entlastung in meinem Arbeitsbereich aus. Wie viele Menschen müssten wir sein, damit wir vernünftig arbeiten können ohne mit dem Gefühl nach Hause zu gehen, das geht so nicht, oder ständig aus dem Frei einzuspringen. Das kann am Ende zur Folge haben, dass wir nicht für alle etwas durchsetzen, sondern nur für die Bereiche, die sich beteiligen und mitwirken. Wir wollen nicht in die klassische Stellvertreterpolitik kommen, wo wir den Leuten sagen, was für sie am besten ist.»
Ähnlich wie in Berlin ist diese Form von Einbeziehung auch für die Verhandlungen geplant, um das Wissen aller Bereiche dabei zu haben. Formell gibt es eine 60köpfige Tarifkommission; wie die Unterfütterung etwa durch Teamdelegiertenversammlungen in NRW genau laufen soll, ist jetzt noch unklar. «Es geht ja auch darum, wie wir einen Tarifvertrag für alle abschließen und dabei gleichzeitig die lokalen Verhältnisse abbilden können.» Die Tochtergesellschaften sind aufgrund der Komplexität zum jetzigen Zeitpunkt noch außen vor. Allein in Köln gibt es dreizehn Tochter- und drei Enkelgesellschaften.

Betrieblich, tariflich und politisch
Es ist ein Dreiklang aus betrieblicher, tariflicher und gesellschaftlich politischer Auseinandersetzung. «Wir unterstützen als Ver.di in NRW parallel eine Volksinitiative für gesunde Krankenhäuser. Wir sammeln Unterschriften für eine bessere Finanzierung der Investitionen der Krankenhäuser, gegen Fallpauschalen, für Personalbemessung und eine wohnortnahe Versorgung. Für die Entlastungsbewegung ist die entsprechende politische Unterstützung in der Gesellschaft entscheidend, denn im Ergebnis reicht die Auseinandersetzung in den Betrieben nicht. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, mich politisch zu engagieren, weil die Verknüpfung hergestellt werden muss.»
Martin Koerbel-Landwehr tritt auf der Landesliste der LINKEN als parteiloser Kandidat auf Platz 6 an. Zu seiner Kandidatur erklärt er: «Wir brauchen auch parlamentarischen Druck zur Unterstützung der Auseinandersetzung in den Betrieben. Dafür brauchen wir wieder eine linke Fraktion im Landtag. Und gleichzeitig muss die Linke merken, dass sie nur als Bewegungspartei eine Zukunft hat, wenn es ihr gelingt, die Auseinandersetzungen auf der Straße und in den Betrieben miteinzubeziehen. Die reine Fokussierung auf den Parlamentarismus ist keine Lösung.»

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