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Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2022

Mario Candeias und Stephan Krull legen eine Studie über das Arbeitskräftepotenzial einer Mobilitätswende ‹weg vom Auto› vor
von Paul Michel

Wer bisher mit der von der Autoindustrie propagierten Losung, das Elektroauto sei die klimafreundliche Alternative zu Diesel- und Benzinstinkern, unzufrieden ist, tut sich schwer. Dass eine Verkehrswende weg von der Straße hin zu Bussen, Straßenbahnen, Zügen und Fahrrad sinnvoll ist, leuchtet inzwischen immer mehr Menschen ein. Aber von der Produktionsseite her betrachtet scheint vielen die Produktion von Elektroautos «alternativlos».

Nur eine verschwindend kleine Minderheit wagt bisher zu behaupten, dass ein Umstieg auf die Produktion von Bussen und Bahnen eine wesentlich bessere Chance zur Rettung der bisherigen Automobilarbeitsplätze bietet als die Produktion von Elektroautos. Diese kleine Minderheit hatte bisher extrem hohe Erklärungsnot – aus dem einfachen Grund, dass es in der Wissenschaft und vor allem bei der zuständigen Gewerkschaft keinerlei Untersuchungen gab, auf die man sich beziehen konnte. Mit großer Anstrengung fand man Artikel von Stephan Krull. Und wer die SoZ liest, stieß auf die fundierten Artikel von Klaus Meier zum Thema Umbau der Autoindustrie.
Doch das waren einsame Rufer in der Wüste. Im Jahr 2020 erschien eine erste, durchaus interessante und fundierte Studie aus dem Fraunhofer-Institut, die noch schwieriger zu lesen ist, als der schon etwas gespreizte Titel vermuten lässt: Synthese und Handlungsempfehlungen zu Beschäftigungseffekten nachhaltiger Mobilität. Eine systematische Analyse der Perspektiven in Deutschland bis 2035.
Vor diesem Hintergrund ist das soeben bei VSAg erschienene, von Stephan Krull und Mario Candeias herausgegebene Buch Spurwechsel* eine Offenbarung. Potenzielle Leser:innen sollten sich von seinem nicht abschrecken lassen. Es besteht aus 15 Artikeln, die sich mit unterschiedlichen Facetten des Thema befassen.
Sie müssen nicht der Reihe nach gelesen werden. Wer z.B. wissen will, welches Beschäftigungspotenzial im Umstieg der Produktion von Autos auf Busse und Bahnen und den Ausbau der zugehörigen Infrastruktur steckt, fängt am besten mit dem Artikel von Mario Candeias an. Der Appetit auf mehr wächst mit dem Lesen. In den Beiträgen von Antje Blöcker und Bernhard Knierim werden Themen beleuchtet, die in der Wahrnehmungswelt von bundesdeutschen Klimaaktivist:innen, Gewerkschafter:innen und auch linken Aktivist:innen mehr oder weniger «weiße Flecken» sind.
Während Mercedes, BMW oder VW allen ein Begriff sind und viele von den großen Automobilzulieferern wie Bosch, Continental und Mahle schon mal gehört haben, ist es um das Wissen über die Player im Bereich Busse oder Bahnen nicht mehr so gut bestellt. Einige mögen vom Zughersteller Bombardier schon gehört haben, weil der in den letzten Jahren durch Pleiten, Pech und Pannen bei der Auslieferung von bestellten Zügen wiederholt in die Schlagzeilen geriet. Aber wer kennt schon Siemens Mobility, den größten Player in diesem Bereich auf der bundesdeutschen Bühne? Bernhard Knierim eröffnet uns mit seinem Artikel den Zugang zu diesem Bereich.
Als ich den Beitrag von Antja Blöcker, «Busse – Seitenstrang oder Potenzial für die Mobilitätswende», las, wurde mir klar, wie wenig ich konkret über die Branche der Busproduktion weiß. Mit ihren Aufsätzen tragen Knierim und Blöcker dazu bei, dass mir ein paar Lichter aufgehen. Und das ist gut so. Wenn wir wissen, was in diesen Bereichen Stand der Dinge ist, sind wir eher in der Lage, unsere Vorstellungen zu konkretisieren oder zumindest die richtigen Fragen zu stellen und schneller Wege zu finden, wie wir uns schlau machen können.

‹…das braucht unglaublich viel Arbeitskraft!›
Der aus meiner Sicht wichtigste Artikel in diesem Buch ist der Schlussartikel. Mario Candeias gelingt es auf knapp zwanzig Seiten Antworten auf die entscheidende Frage zu liefern: die Arbeitsplatzfrage. Überall ist es Thema, dass die von der Autoindustrie betriebene Antriebswende weg vom Verbrenner zum Elektroauto hunderttausende Arbeitsplätze kosten wird. Candeias’ Kernaussage lautet dagegen: Eine echte Mobilitätswende benötigt außerordentlich viel Arbeitskraft. Wenn aus der geschätzten Steigerung der Fahrgastzahlen bei Bahn und ÖPNV um den Faktor 2,5 etwas werden soll, würde das bei der Bahn- und Schienenfahrzeugindustrie 145000–235000 zusätzliche Arbeitsplätze, bei der E-Bus-Industrie 55000–60000 zusätzliche Arbeitsplätze und in der Fahrradindustrie 15000–18000 zusätzliche Arbeitsplätze bringen.
Dazu kämen noch die Arbeitsplätze, die geschaffen würden, wenn die Bahn von einer Börsenbahn in eine Bürger:innenbahn umgewandelt würde und der ÖPNV endlich den Service böte, der möglich und auch erforderlich ist, um deutlich größere Teile der Bevölkerung zu bewegen, das Auto abzuschaffen und sich stattdessen mit Bahnen, Bussen, Fahrrad und den eigenen zwei Beinen fortzubewegen.
Candeias geht von zusätzlichen 220000 Arbeitsplätzen aus. Durch eine Verkehrswende, die den Namen verdient, würden vermutlich mehr Arbeitsplätze entstehen als beim Rückbau der Autoindustrie entfallen würden.

Es geht nicht ohne Klassenkampf
Candeias geht davon aus, dass der erforderliche Strukturwandel nicht auf rein betrieblicher Ebene erfolgen kann und die Konzerne bei dieser Transformation nicht freiwillig mitmachen werden. Hinsichtlich der Mittel, wie da nachgeholfen werden kann, meint Candeias: «Entsprechend wären staatliche Kapitalhilfen für die Transformation als Hebel zu nutzen, um Druck in Richtung alternative Produktion aufzubauen und um eine Beteiligung am Eigentum sicherzustellen bzw. perspektivisch die volle Vergesellschaftung von Unternehmen zu ermöglichen. Eine öffentliche Beteiligung wäre mit einer erweiterten Mitbestimmung von Beschäftigten, Gewerkschaften, Umweltverbänden und der Bevölkerung zu verbinden.»
Dazu melde ich Widerspruch an. Candeias’ Hoffnung, auf dem Weg über erweiterte Mitbestimmung – sozusagen in beiderseitigem Einvernehmen – zu solch tiefen Eingriffen in die Verfügungsgewalt des Kapitals zu kommen, ist ebenso unrealistisch wie seine Vorstellung, Schritt für Schritt die staatliche Beteiligung an den Autokonzernen immer weiter aufzubauen, um dann auf diesem Wege letztlich die Kontrolle über die Konzerne zu übernehmen.
Die aktuellen Machthaber lassen sich nicht so einfach die Butter vom Brot nehmen. Es sei hier nur daran erinnert, wie sich die Lufthansa (erfolgreich!) mit Händen und Füßen dagegen gesträubt hat, dass aus der staatlichen 9-Milliarden-Rettungsspitze irgendwelche Einflussrechte des Staates auf die Geschäftspolitik der Lufthansa erwachsen. Da beißt die Maus keinen Faden ab: Es gibt keine Überwindung des Kapitalismus mit Zustimmung der Kapitalisten. Der Bruch gar mit der kapitalistischen Ordnung wird nur mittels härtester sozialer Auseinandersetzung erreichbar sein.

Dicke Bretter bohren
Im Einleitungskapitel beschreiben Candeias und Krull die Lage in den Betrieben so: «Ideenlosigkeit und die Einübung ins Co-Management prägen das Denken der Beschäftigten, ihrer Vertreter und der Gewerkschaften – zumindest in den Führungsspitzen und von Ausnahmen einmal abgesehen.» Aktuell sind wir – ohne Verankerung in den Betrieben – nicht wirkmächtig. Die Autoren sprechen von der Notwendigkeit des «Bohrens dicker Bretter».
Ihre Vorhaben für die nahe Zukunft beschreiben sie wie folgt: «Wir wollten durch die Studien (wieder) stärker mit Beschäftigten aus den Betrieben und Gewerkschafter:innen ins Gespräch kommen, über die Lage und die Debatten in den Betrieben und den Gewerkschaften, über bestehende Konversionsvorstellungen etc. sprechen. Außerdem wollten wir, dass Kolleg:innen aus den unterschiedlichen Bereichen der Auto-, Bus- und Schienenfahrzeugproduktion untereinander stärker ins Gespräch kommen, um sich über Potenziale quer zu den Mobilitätsindustrien und vielleicht auch gemeinsame Aktivitäten auszutauschen. Dazu laden wir bei unseren Foren und Seminaren stets auch Vertreter:innen aus Mobilitätswende-Initiativen sowie Umwelt- und Klimabewegung sowie der LINKEN und der kritischen Wissenschaft ein. Es gilt, an die Interessen anzuknüpfen und im kritischen Miteinander gemeinsame Positionen, Initiativen und Praktiken zu entwickeln.»
Für so eine Arbeit liefert das Buch auf jeden Fall viele nützliche Hilfestellungen.

Der Autor arbeitet mit im Netzwerk Ökosozialismus, https://netzwerk-oekosozialismus.de/

*Spurwechsel. Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotenzialen und alternativer Produktion (Hrsg. Mario Candeias, Stephan Krull). Hamburg: VSA, 2022. 408 S., 19,80 Euro (auch als Download unter www.rosalux.de/publikation).

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