Lieferketten, Globalisierung & neuer Kalter Krieg
von Ingo Schmidt
Inflation und Inflationsbekämpfung sind Thema Nr.1. Endlich mal wieder was Bekanntes. Die üblichen Verdächtigen werden vorgeführt: Der Geldumlauf ist zu hoch, die Konjunktur läuft heiß, die Gewerkschaften drehen hemmungslos an der Lohn-Preis-Spirale. Aber die Beweislage ist schwach.
Seit der Finanzkrise 2008/2009 pumpen Zentralbanken massenhaft Geld zum Nulltarif in den Wirtschaftskreislauf. Vor der Krise druckte das Finanzsystem das Geld selber. Trotzdem blieben die Inflationsraten nahe Null. Die Konjunktur kam nach der Finanzkrise nie wieder so richtig in Schwung. Der Corona-Rezession im ersten Halbjahr 2020 folgte ein ebenso starker Wiederaufschwung in der zweiten Jahreshälfte. 2021 stagnierte die Wirtschaft. Von konjunktureller Überhitzung keine Spur. 2015 und 2018 wurde deutlich mehr gestreikt als in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten. Aber das waren Ausnahmen. 2019 war es mit der vorübergehenden Militanz wieder vorbei. Auch den Gewerkschaften lassen sich die steigenden Inflationsraten der letzten Monate nicht anhängen.
Unterbrochene Lieferketten
Aber es gibt eine neue Verdächtige: die unterbrochene Lieferkette. Im verarbeitenden Gewerbe wird die Produktion runtergefahren, weil es an Computerchips fehlt. In China führt jede lokale Infektionswelle zum Lockdown. In den Häfen stapeln sich die Container. Putin liefert zu wenig Gas. Die Indizienkette ist allerdings noch brüchiger als die Lieferkette. Die Produktion von Computerchips ist so hoch wie vor der Corona-Rezession. Aber die Nachfrage nach Smartphones, Tablets und Computern ist während der Rezession sprunghaft gestiegen. Netflix, Spotify und Zoom brachten die virtuelle Welt ins Wohnzimmer, digital gesteuerte Lieferdienste brachten die Pizza. Automobilhersteller, gewohnt, sich über kurzfristige Bestellungen mit den notwendigen Chips einzudecken, fanden sich auf einmal am Ende einer Warteschlange.
Auch andere langlebige Verbrauchsgüter wurden während der Corona-Rezession verstärkt nachgefragt. Der allgemeine Konjunktureinbruch ging mit einer Verschiebung der Konsumnachfrage zugunsten von Gütern und Diensten einher, die zuhause genutzt werden können. Der Nachfrageboom führte zu Engpässen beim Transport. In den Häfen stapeln sich die Container, warten Schiffe aufs Entladen. Allerdings machen sich bereits Sättigungstendenzen bemerkbar.
Anders bei der Energieversorgung. Die Liberalisierung der Energiemärkte hat zu einer Zunahme kurzfristiger Verträge geführt. In der EU wird nur ein Teil des Gasbedarfs über langfristige Verträge mit festgesetzten Preisen gedeckt. Was darüber hinausgeht, muss kurzfristig zu laufenden Preisen beschafft werden. Deshalb gibt es in der kalten Jahreszeit, wenn die Nachfrage steigt, regelmäßig erhebliche Preissteigerungen.
Dazu kommt ein mittelfristiger Effekt. Der aktuelle Anstieg der Energiepreise wäre weniger stark ausgefallen, wenn es 2014 nicht zu einem Zusammenbruch der Gas- und Ölpreise gekommen wäre. In der Folge sanken die Investitionen in fossile Förderprojekte, aber auch bei Wind- und Solarenergie. Investitionen waren nicht profitabel. Hinzu kam die Unsicherheit über die Richtung der künftigen Energieversorgung. Irgendwann wurden Kapazitätsgrenzen erreicht, die Preise stiegen. 2014 war es umgekehrt: Mehr als ein Jahrzehnt hoher Preise hatte zu Überkapazitäten geführt, insbesondere weil Fracking und die Verarbeitung von Ölschiefer rentabel wurden. Damit wurden die USA zu einem der größten Ölexporteure der Welt.
Im Zentrum: der Zugriff auf Energie und Arbeitskräfte
Ein Boom bei langlebigen Konsumgütern, damit verbundene Transportengpässe und der Wiederanstieg der Energiepreise führten in den letzten Monaten zu einer steigenden Inflationsrate. Bei Konsumgütern ist der Höhepunkt des Booms bereits überschritten. Die Energiepreise könnten durch eine restriktive Geldpolitik nach unten gedrückt werden – um den Preis einer allgemeinen Rezession.
Ob die Machteliten in Politik und Wirtschaft diesen Weg gehen, darf bezweifelt werden. Nicht nur wegen trüber Konjunkturaussichten, sondern vor allem, weil ihr Geschäftsmodell des globalen Zugriffs auf billige Arbeitskräfte und – trotz mitunter hoher Rohstoffpreise – unbegrenzten Naturverbrauch seit geraumer Zeit unter Druck steht. Mangel an Computerchips und Probleme bei der Energieversorgung sind nicht nur Gründe für die gegenwärtigen Preissteigerungen. Sie weisen auch auf die Konfliktlinien eines vom Westen erklärten Neuen Kalten Krieges hin. Die Gegner sind Russland, das billigere Energie als die USA anbietet, aber im Gegensatz zu andern Energieexporteuren über Atomwaffen verfügt. Und China, dessen Wirtschaft sich von einer verlängerten Werkbank des Westens zur technologischen Herausforderung gewandelt hat.
Inflation als ideologische Waffe
Dieses Geschäftsmodell wurde durch den Kampf gegen die Inflation in den 1970er Jahren befördert. Anders als heute gab es damals Verteilungskämpfe zwischen Unternehmen und Gewerkschaften sowie Rohstoffexporteuren und -importeuren. Diese Kämpfe führten zur Inflation und waren auf dem linken Flügel von Gewerkschaften und antikolonialen Bewegungen mit systemverändernden Vorstellungen verbunden. Wirtschaftsdemokratie und neue Weltwirtschaftsordnung sollten Kapitalismus und Imperialismus in die Schranken weisen. Die Lohn-Preis- oder Preis-Lohn-Spirale drehte sich noch, die Ölschocks waren noch nicht überwunden, als vereinzelte Unternehmen mit der Verlagerung ihrer Produktion in Länder mit niedrigeren Löhnen und ohne militante Gewerkschaften begannen.
Mit dem Ziel, die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu brechen, und eine Rezession in Kauf nehmend drehte die US-Zentralbank 1980 den Geldhahn zu. Die Zinsen schossen in die Höhe, die Konjunktur brach ein. Massenarbeitslosigkeit nahm den Gewerkschaften den Wind aus den Segeln. Trotzdem nahmen Produktionsverlagerungen danach an Fahrt auf. Ein Nebeneffekt der vorübergehend explodierenden Zinsen war die internationale Schuldenkrise, in deren Verlauf IWF und Weltbank so ziemlich alle Länder des globalen Südens zwangen, von Importsubstitution auf Exportorientierung umzuschalten. Für viele bedeutete dies den Ausverkauf von Rohstoffen und Agrarprodukten, andere wurden Standort industrieller Fertigung. Design, Verkauf und Finanzierung der jeweiligen Produktionsprozesse blieben jedoch fast vollständig in der Hand westlicher Konzerne.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde China zum globalen Zentrum des verarbeitenden Gewerbes. Die Lieferketten blieben unter der Kontrolle westlicher Konzerne. Doch daneben bestand ein staatlicher Sektor fort, der alsbald Zweifel unter westlichen Managern, Vermögensbesitzern und Kapitalisten aufkommen ließ, ob Chinas Öffnung für den Weltmarkt auch den Übergang von einer «kommunistischen» Kommandowirtschaft zu einer «freien Marktwirtschaft» bedeutete. Neben ideologische Zweifel trat die Angst vor ökonomischer und politischer Konkurrenz.
Während der Rest der Welt nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09 in eine Stagnationsphase am Rande der Deflation überging, wurde die chinesische Wirtschaft mit Staatshilfe schnell wieder auf Wachstumskurs gebracht. Kurz darauf erklärte US-Präsident Obama China zur größten Sicherheitsbedrohung der USA. Die NATO-Partner übernahmen diese Einschätzung. Mit dem Ziel der ökonomischen Eindämmung wurde die transpazifische Partnerschaft ins Leben gerufen. Sanktionen und Zölle verfolgen das gleiche Ziel – auch wenn sie den ansonsten heiligen Prinzipien des Freihandels widersprechen und globale Lieferketten strapazieren.
Neben China wurde Russland zum Hauptgegner der neuen Kalten Krieger. Weniger zentral im globalen Machtpoker als China, fällt die Kritik an Moskau leichter. Doch anders als im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion stehen sich heute nicht zwei wirtschaftlich fast vollständig voneinander isolierte Blöcke gegenüber, sondern hochgradig miteinander verflochtene Länder, mit China und den USA als rivalisierenden Zentren. Russland steht dabei etwas abseits, ist mit seiner Kombination aus Rohstoffreichtum und Atomwaffen aber immer noch eine Beinaheweltmacht.
Die Machteliten des Westens präsentieren sich als Verteidiger der Freiheit gegen die antiliberalen Regime in China und Moskau. Aber sie fürchten sich auch vor einer eurasischen Allianz. Und tragen mit ihrer Unterscheidung zwischen Liberalismus und Antiliberalismus viel zur Entstehung einer solchen Allianz bei. Inflation ist dabei weniger ein ökonomisches Problem als eine ideologische Waffe – lässt sie sich doch bequem Russen und Chinesen in die Schuhe schieben. In den 70er Jahren spielten «die Ölscheichs» die Rolle des preistreibenden Bösewichts.
*Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.
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