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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2022

Nach dem Militärputsch haben die Arbeitenden die Wahl zwischen Hunger und Kampf
von Kiana Duncan

Für den Textilarbeiter und Gewerkschaftsaktivisten Thurein Aung hängt die Sicherheit seiner einstündigen Motorradfahrt zur ­Arbeit in Yangon davon ab, welche Kämpfe in den Tagen zuvor stattgefunden haben. Wenn sich der Konflikt zwischen der Militärjunta Myanmars und den Widerstandskräften an der Basis, die Volksverteidigungskräfte (PDF) in den Großstädten, den Industriegebieten nähert, beginnen militärische Kontrollpunkte die Hauptstraßen zu säumen.

«Heute haben die PDF das Militär angegriffen, also wird es jetzt mehr Kontrollpunkte geben», sagt Thurein Aung. Sie gefährden die persönliche Sicherheit der vielen Arbeiter, die mit ihren eigenen Motorrädern anstatt mit dem mehr oder weniger zuverlässigen öffentlichen Verkehrsnetz fahren. «Mein Motorrad wurde schon einmal konfisziert, sodass ich 10000 Kyat [etwa 5,60 US-Dollar, das Dreifache des durchschnittlichen Tageslohns] zahlen musste.» Es gibt auch Berichte über sexuelle Übergriffe und Verhaftungen an Kontrollpunkten. In den Industriegebieten rund um Yangon, Myanmars größter Stadt und industriellem Zentrum, müssen die Arbeiter das hinnehmen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Es ist fast ein Jahr her, dass Myanmars Militär Parlamentsmitglieder und die Regierungschefin Aung San Suu Kyi verhaftete, bevor es am 1.Februar 2021 die demokratisch gewählte Zivilregierung der Nationalen Liga für Demokratie (NLD) stürzte. Gewerkschaftsaktive organisierten die ersten groß angelegten Proteste sowie einen Generalstreiks am 22.Februar 2021. Sie haben eine landesweite gewaltlose Bewegung des zivilen Ungehorsams (CDM) gegen die Militärjunta und zur Unterstützung der Regierung der Nationalen Einheit (NUG, eine nationale Exilregierung) angestoßen. Am 7.September hatte die NUG einen «Verteidigungskrieg des Volkes» gegen das Militärregime ausgerufen; es folgten einige der schlimmsten Kämpfe seit Jahrzehnten.
Die Gewerkschafter bezahlten einen hohen Preis für die Proteste. Die Regierung erklärte die Myanmar Labour Alliance (MLA), ein Bündnis aus 16 Gewerkschaften, das als Reaktion auf den Staatsstreich gegründet wurde, für illegal. Fabrikarbeiter, etwa zehn Prozent der Beschäftigten in Myanmar, bekamen die geballte Ladung ab: Drohungen mit militärischer Gewalt; Ermordung von Aktivisten; Versuche von Unternehmern, die mit der Junta zusammenarbeiten, die Gewerkschaften zu zerschlagen; Massenentlassungen aufgrund der Covid-19-Pandemie, die durch den Putsch noch schlimmer wurde; steigende Rohstoffpreise bei gleichzeitigem Kaufkraftverlust; Rückgang des ohnehin niedrigen Lohns, der derzeit zwischen dem täglichen Minimum von 4800 Kyat (2,70 US-Dollar) und unter 3600 Kyat (2 US-Dollar) schwankt.

Vom Militär gejagt
Unmittelbar nach dem Staatsstreich starteten die Gewerkschaften eine Organisierungsoffensive. Die Lohnabhängigen wurden auch ermutigt, ihren Widerstand gegen die Militärherrschaft durch Streiks zu bekunden. Doch mit der Zeit wurde der Tageslohn zu einer Lebensgrundlage, auf die die meisten Beschäftigten nicht verzichten können. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 gingen etwa 250000 Arbeitsplätze in der Textil- und Schuhindustrie verloren, wobei Aktivisten der Bewegung CDM als erste entlassen wurden.
Thurein Aung, der immer noch arbeitet und sich bisher der Verhaftung entziehen konnte, sagt, seit dem Beginn des Putsches sind von elf Fabrikgewerkschaften in Yangon mit einst 1300 Mitgliedern nur noch vier übrig geblieben sind. Viele ihrer Anführer sind auf der Flucht.
Khaing Zar Aung, Schatzmeisterin der CTUM, des größten Gewerkschaftsverbands des Landes, und Präsidentin der Industrial Workers Federation of Myanmar (IWFM), bestätigt, dass viele Gewerkschafter vom Militär «gejagt» werden. «Die Fabrikmanager haben Namen und Adressen von Gewerkschaftsführern und aktiven Mitgliedern an die Polizei und das Militär weitergegeben», erklärt sie.
Myanmars Gewerkschaftsveteranen erinnert das an vergangene Jahrzehnte brutaler Militärherrschaft. Nach 50 Jahren Verbot der Arbeiterorganisationen gab es in den zehn Jahren demokratischer Herrschaft (2011–2021) bedeutende, wenn auch begrenzte Fortschritte bei den Arbeiterrechten. So wurden etwa durch die Reformen der ersten zivilen Regierung Gewerkschaften legalisiert. Mit der Einführung formalisierter Arbeitsrechte begannen ausländische Investoren, Myanmar als Markt zu erschließen. In den letzten zehn Jahren wurden erste Versuche unternommen, den Schutz vor Kinderarbeit, Zwangsarbeit und geschlechtsspezifischer Diskriminierung zu verbessern. Aber ohne solide Grundlage standen diese Versuche schon vor dem Staatsstreich vom 1.Februar auf unsicheren Füßen.
Als die Gewerkschaften sahen, dass sie diese grundlegenden, hart erkämpften Arbeitsschutzmaßnahmen zu verlieren drohten, wurde ihre Haltung entschlossener. Die MLA forderte umfassende Wirtschaftssanktionen gegen die Junta; das war ein mutiger Versuch, die Arbeiterrechte in dem Land wiederherzustellen. Gewerkschaftsmitgliedschaft und die damit verbundenen Bedrohungen werden immer noch stigmatisiert und der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist allgemein niedrig (weniger als ein Prozent der Beschäftigten).
Die Bekleidungsindustrie ist für die Wirtschaft Myanmars von entscheidender Bedeutung. Vor Covid belieferte sie globale Marken wie H&M, Zara und Primark und beschäftigte über 700000 schlecht bezahlte, meist weibliche Arbeitskräfte, deren Arbeit ein Drittel aller Exporte aus Myanmar ausmachte. Obwohl nur wenige Marken ihre Tätigkeit in Myanmar eingestellt haben, üben einheimische und internationale Gewerkschaften weiterhin Druck aus.
«Derzeit gibt es in Myanmar kein Recht auf Vereinigungsfreiheit, kein Recht auf Tarifverhandlungen, keine Arbeitnehmerrechte und überhaupt keine Menschenrechte», sagt Khaing Zar Aung. «Unter der Diktatur kann keine demokratische Gewerkschaft überleben.»

Verschiedene Taktiken
Schon vor dem Staatsstreich legten Fabrikbesitzer den Betrieb still, setzten sich ab, hinterließen die Belegschaften plötzlich und ohne Vorwarnung oder Entschädigung arbeitslos, weigerten sich, monatelange Lohnnachzahlungen zu leisten. Ein Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom Juli 2021 stellte fest, dass 1,2 Millionen Beschäftigte in Myanmar seit Ende 2020 ihren Arbeitsplatz verloren hätten und die Arbeitszeit im ersten Quartal 2021 um 14 Prozent gekürzt worden sei; die Frauen hatten größere Verluste als die Männer. Einem UN-Bericht zufolge hat seit Beginn der Covid-19-Beschränkungen etwa ein Viertel der Bevölkerung ihren Arbeitsplatz verloren, 18 Prozent der Haushalte haben kein Einkommen, zwei Drittel ein geringeres Einkommen.
In den Fabriken, die noch geöffnet sind, haben die Arbeitenden mit ansehen müssen, wie die wenigen Rechte, die sie zuvor hatten, völlig verloren gingen. Obwohl der Mindesttagessatz nie ein existenzsichernder Lohn war, ist allein der 60prozentige Wertverlust des Kyat seit September ein massiver Schlag für die Beschäftigten. In Verbindung mit dem Verlust von Überstundenzuschlägen, Prämien, Sozialleistungen und der täglichen Arbeitsplatzunsicherheit fragen sich viele, wie sie ihre Familien weiterhin ernähren sollen. Überstunden ohne Bezahlung werden immer häufiger, da die Beschäftigten gezwungen sind, alles zu tun, um ihren Arbeitsplatz zu behalten.
In einer Fabrik, in der CTUM-Mitglieder noch arbeiten können, berichtet Khaing Zar Aung, dass die Arbeiter vier Monate lang entlassen wurden, bevor sie gezwungen werden konnten, einen Vertrag zu unterzeichnen, der nur 100000 Kyat (etwa 56 US-Dollar) oder zwei Monate Mindestlohn vorsah. Die 70 Beschäftigten, die sich weigerten, wurden von Soldaten der Junta eingeschüchtert, die der Fabrikbesitzer bezahlte.
Neben allgemeinen Versuchen, die Gewerkschaften zu zerschlagen, wurden Arbeiter auch entlassen, weil sie sich krank gemeldet hatten oder weil sie die ständig steigenden Produktionsziele nicht erfüllten. «Die Unternehmer haben den Putsch genutzt, um die Gewerkschaften zu stürzen. Sie verletzen die Arbeitsrechte, kürzen die Löhne, zwingen die Beschäftigten zur Arbeit und verstoßen gegen alle früheren Tarifverträge», erklärt Khaing Zar Aung.
Trotz der anhaltender Beschwerden der Arbeitenden gehen die Gewerkschaften unterschiedliche Wege. So veröffentlichte die Mehrheit der Gewerkschaften einen Aufruf, der Wirtschaftssanktionen gegen Myanmar fordert. Der Aufruf wurde von der globalen Gewerkschaftsföderation IndustriALL Ende August unterstützt. Sie verwies dabei auf das historische Wissen, dass die Beschäftigten in Myanmar niemals in der Lage sein würden, in den Fabriken zu verhandeln, solange sie für illegal erklärt und vom Militär mit Gewalt bedroht würden.
Die Arbeitenden stecken in der Zwickmühle: Entweder sie arbeiten unter immer gefährlicheren Bedingungen für Löhne, die immer weniger wert sind, oder sie kämpfen an der Seite von CDM-Aktivisten, von denen die meisten von Spenden oder kleinen landwirtschaftlichen Initiativen leben. «Es stimmt, dass die Lebensbedingungen schwierig sind, aber die Löhne sinken, und die Rohstoffpreise steigen. Unsicherheit bedeutet, dass alle Menschen jederzeit verhaftet werden können, sogar in ihren eigenen Häusern», sagt Ma Tin Tin Wai, eine Textilarbeiterin aus Yangon. «In dieser Situation gibt es keine Sicherheit.»

Quelle: www.equaltimes.org/between-military-violence-union#.YforL-pByHs.

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