Was treibt Putin in der Ukraine für ein Spiel?
von Volodya Vagner
Während hierzulande ein Krieg mit Russland an die Wand gemalt wird, sind russische radikale Linke, die in Opposition zu Putin stehen, ebenso wie die ukrainische Führung weitaus reservierter. Die nachstehenden Beiträge bieten einen Einblick in die Beweggründe für die russische und ukrainische Politik.
Russlands Dementis über seine feindliche Absichten in der Ukraine sind nicht viel wert. Schließlich hat auch Wladimir Putin im Jahr 2014 zunächst bestritten, dass die «kleinen grünen Männchen», die die Annexion der Krim ermöglichten, Truppen unter seinem Kommando waren und russische Truppen die «Volksrepubliken» im Donbass unterstützen, obwohl es eindeutige Beweise für das Gegenteil gibt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die derzeitige westliche Besorgnis über einen möglichen Angriff für bare Münze genommen werden sollte.
Militäranalysten und die politische Führung der Ukraine, für die eindeutig am meisten auf dem Spiel steht, scheinen Washingtons Dringlichkeit nicht zu teilen. Auf einer Pressekonferenz am 28.Januar zeigte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj irritiert über die Art und Weise, wie westliche Verbündete und Medien die Krise diskutieren: «Sie sagen einfach: ‹Morgen wird es Krieg geben›, und schüren damit Panik.» Zwar hat die Ukraine die zusätzlichen Waffen begrüßt, die ihr kürzlich von verbündeten Staaten zur Verfügung gestellt wurden, um einen möglichen russischen Angriff abzuwehren, doch das aktuelle Patt bezeichnet die Regierung als nichts anderes als eine Fortsetzung der russischen Aggression, der sie seit 2014 ausgesetzt ist.
Einige der besorgniserregendsten Berichte über russische Angriffsabsichten kommen von undichten Stellen in den US-amerikanischen und britischen Geheimdiensten – sie wurden von ukrainischen Beamten dementiert oder relativiert. Dies deutet darauf hin, dass in einigen westlichen Hauptstädten der Wunsch besteht, die Bedrohung schwerer zu machen als sie ist. Was genau der Grund für die derzeitigen Spannungen ist, was sich die beteiligten Parteien davon erhoffen und wie weit sie zu gehen bereit sind, lässt sich nur schwer feststellen.
Der Beginn der jüngsten Eskalation
Im Frühjahr 2021 verstärkte sich die russische Militärpräsenz entlang der ukrainischen Grenzen, nachdem Selenskyj von einer eher zurückhaltenden Haltung gegenüber Russland abgerückt war. Er schloss mehrere prorussische Fernsehsender und stellte den ukrainischen Oligarchen und Politiker Viktor Medwedtschuk, einen Freund und inoffiziellen Gesandten Putins, unter Sanktionen, später unter Hausarrest. Im April setzte die Ukraine in ihrem laufenden Krieg gegen die von Russland unterstützten Kräfte im Donbass Drohnen des Typs Bayraktar aus türkischer Produktion ein. Da mögen bei Russland die Alarmglocken geläutet haben, da diese Waffen entscheidend waren für die erfolgreiche Rückeroberung der von Armenien unterstützten abtrünnigen Region Karabach durch Aserbaidschan ein Jahr zuvor.
Es ist denkbar, dass der anfängliche Anstieg der russischen Truppenbewegungen nach Westen in erster Linie darauf abzielte, ukrainische Versuche, die abtrünnigen Regionen mit Gewalt zurückzuerobern, zu unterbinden. Ob die Dinge jedoch immer noch nach Russlands Plan laufen, ist unklar.
«Die Strategie der Risikosteigerung, die Putin früher für nützlich hielt, hat sich unerwartet gegen ihn gewendet», sagt Ilja Budraitskis, ein in Moskau lebender Historiker und Kommentator des Zeitgeschehens. Laut Budraitskis betrachtet Putin den Westen als zersplittert, und, anders als er unfähig, einen einheitlichen politischen Willen aufzubringen und somit im Nachteil, wenn er mit eskalierenden Risiken konfrontiert wird. «Aber es hat sich gezeigt, dass der Westen dieses Spiel auch spielen kann. Während die westlichen Staats- und Regierungschefs eine direkte militärische Reaktion der NATO ausgeschlossen haben, haben sie Verstärkung in die osteuropäischen Mitgliedstaaten geschickt und gedroht, jedem militärischen Schritt Russlands mit ‹beispiellosen Sanktionen› zu begegnen, die die Wirtschaft des Landes zerstören würden.»
Auf wackligen Füßen
Ob der politische Wille des Kreml wirklich so weit geht, die von den USA erwartete große militärische Eskalation einzuleiten, ist nicht sicher. Laut Budraitskis würde dies Risiken mit sich bringen, die er möglicherweise gar nicht einzugehen bereit ist: «Es ist klar, dass ein erheblicher Teil der russischen Elite nicht bereit ist zu einem so radikalen Konflikt mit unvorhersehbarem Ausgang.»
Während Putins Glücksspiel im Jahr 2014, bei dem Russland die Krim schnell und fast unblutig annektierte, bevor der Westen antworten konnte, ihm zu Hause Popularität einbrachte, ist der gleiche Effekt heute nicht garantiert. «Es ist schwer vorherzusagen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass die Russen begeistert wären», sagt Budraitskis. «Wenn es wirklich zu einer Invasion der Ukraine bis nach Kiew käme, wäre das nicht nur ein Krieg im Fernsehen, sondern würde jeden betreffen und könnte das Regime politisch destabilisieren.»
Wie die ukrainische Politik einen möglichen russischen Angriff überstehen würde, ist noch weniger klar. Dem ukrainischen Soziologen Wolodymyr Ischtschenko zufolge würden militärische Rückschläge «wahrscheinlich die Macht Selenskyjs untergraben». Wer würde profitieren? «Das ist eine große Frage, denn wir sehen keine bedeutenden alternativen Kräfte.» Ischtschenko hält eine größere Eskalation für unwahrscheinlich, ein kleineres Aufflammen von Feindseligkeiten im Osten des Landes würde seiner Meinung nach eher nationalistischen Kräften wie der Partei des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko Auftrieb verschaffen, allerdings nur vorübergehend.
Der Autor ist freiberuflicher Journalist in Schweden und berichtet über Kultur und Politik. Er schreibt auf englisch, schwedisch und deutsch. Quelle: https://novaramedia.com.
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