Ein Gespräch mit zwei linken Ukrainern
Interview mit Denys Gorbatsch und Denis Pilasch
Shaun Matsheza und Nick Buxton von Transnational Institute (TNI) sprachen mit zwei Aktivisten aus der Redaktion der linken Zeitschrift Commons, die sich mit der Wirtschaft, Politik, Geschichte und Kultur der Ukraine befasst. Denys Gorbatsch ist Sozialforscher und promoviert derzeit in Frankreich über die Politik der ukrainischen Arbeiterklasse, Denis Pilasch ist Politikwissenschaftler und Aktivist in der sozialen Bewegung Sozialnyj Ruch.
Es ist eine schreckliche Situation. Im Moment ist es für jeden sehr schwierig genau zu bestimmen, was die Strategie Russlands ist. Was denkt ihr, wohin wird das führen?
Denys Gorbatsch: Ich bin kein Militäranalytiker, aber wir sollten nicht mit nennenswerten Zugeständnissen von Selenskyj rechnen. Nicht, weil er so ein Superheld ist, wie er in der westlichen Presse dargestellt wird, sondern weil er keine andere Wahl hat. Wenn er einem bedeutenden Zugeständnis zur Beendigung des Krieges zustimmt, ist das Risiko enorm, dass er durch einen nationalistischen Staatsstreich abgesetzt wird.
Er hat sich sichtlich dafür entschieden, sich notfalls von einer Besatzungsmacht absetzen zu lassen und nicht von seinen ukrainischen Landsleuten. Ähnlich sieht es so aus, als habe sich Putin in eine Situation gebracht, in der seine Herrschaft im Inneren gefährdet wäre, wenn er einen Rückzieher machen würde. Ich sehe im Moment keine Anzeichen dafür, wie der Konflikt deeskaliert werden kann.
Denis Pilasch: Ich bin auch kein Militäranalytiker, aber es sieht so aus, als hätten sie einen reibungslosen Blitzkrieg geplant, bei dem sie die großen Städte in wenigen Tagen einnehmen und als Befreier empfangen werden sollten. Stattdessen gibt es jede Menge logistische Probleme, und die Bevölkerung in den eroberten Regionen lehnt sie rundweg ab. Es gibt große Kundgebungen gegen die russische Besatzung, die meisten lokalen Behörden weigern sich, mit den Besatzungstruppen zusammenzuarbeiten.
Sie haben sich eindeutig verkalkuliert und scheinen keinen klaren Plan B zu haben. Das birgt die Gefahr eines längeren Krieges, aus dem Putin sich nicht ohne erhebliche Zugeständnisse zurückziehen wird, und in dem Selenskyj und die Ukraine keine andere Möglichkeit haben, als Widerstand zu leisten.
Es scheint leider so, dass die Linke in der Frage, wie man reagieren soll, sehr gespalten ist. Wie sieht Solidarität aus?
Denys Gorbatsch: Nun, was die Spaltung angeht, gibt es z.B. den so genannten Campismus, der seine Wurzeln im Kalten Krieg hat, als ein bedeutender Teil der westlichen Linken die Sowjetunion unterstützte. Was auch immer seine Logik in der Vergangenheit gewesen sein mag, heute ist das ein Irrweg, da Russland eindeutig ein kapitalistisches Land ist und dessen Führer Putin ein ausdrücklicher Antikommunist, der davon schwärmt, wie sehr er Lenin und die Bolschewiken dafür hasst, dass sie das kostbare russische Reich zerstört haben. Doch irgendwie glauben die Nachfahren der Campisten, dass wir immer noch in den 70er Jahren sind.
Ich denke, jetzt ist ein guter Zeitpunkt für alle Linken weltweit, ihren Standpunkt zu überdenken. Wir sollten bei der Analyse von Ereignissen, die sich außerhalb unseres eigenen Landes abspielen, die geopolitische Voreingenommenheit abstreifen. Allzu oft wird in linken Analysen nur der NATO oder Putin eine Rolle zugewiesen, den Millionen Menschen in der Ukraine diese Rolle aber verweigert. Die Ukrainer sind nicht nur Menschen, sondern auch eure Klassenbrüder. Die meisten von ihnen sind arbeitende Männer und Frauen, die viele Alltagssorgen teilen und die es verdienen, bei der Formulierung eurer Positionen berücksichtigt zu werden.
Denis Pilasch: Der Hinweis auf die ukrainische extreme Rechte oder die Korruption und die Oligarchen sollte kein Hindernis für die Solidarität der Menschen mit den direkten Opfern der russischen Bomben und des russischen Imperialismus, und in der Tat der Oligarchen und der extremen Rechten sein.
Wir müssen uns auf die Bedürfnisse der Menschen in diesen Ländern konzentrieren. All das Gerede über «legitime Sicherheitsbedenken» Russlands bspw.: Geben diese «Sicherheitsbedenken» einer imperialen Macht das Recht, zu intervenieren und diese Aggression durchzuführen? Nein, natürlich nicht. Dieses Prinzip muss man auch auf die Ukraine und alle anderen vom Imperialismus betroffenen Länder anwenden. Auch die russische Regierung arbeitet eifrig mit der europäischen extremen Rechten und ultrakonservativen Kräften zusammenarbeitet.
Welche Art von Unterstützung können fortschrittliche Kräfte den Menschen in der Ukraine geben? Ist es richtig, dass die Linke Forderungen nach militärischer Unterstützung erhebt?
Denys Gorbatsch: Das ist eine schwierige Frage. Mir persönlich gefällt die Position von Gilbert Achcar, der zu einer radikalen, antiimperialistischen Haltung aufruft. Sie sollte seiner Meinung nach darin bestehen, eine Flugverbotszone und ähnliche Vorschläge abzulehnen, da dies zu einem direkten militärischen Zusammenstoß zwischen den großen imperialistischen Mächten und einem möglichen globalen Atomkrieg führen würde.
Andererseits lohnt es sich, Waffenlieferungen an ein kleines Land zu unterstützen, das versucht, sich gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen, wie es in Vietnam oder Korea geschah, die von umfangreicher Militärhilfe aus China und der Sowjetunion profitierten.
Denis Pilasch: Es gibt eine große historische Tradition der Unterstützung von Volkskriegen in kleineren Ländern, die von großen imperialen Mächten angegriffen oder unterdrückt werden. Sie ist seit dem 19.??Jahrhundert integraler Bestandteil linker politischer Projekte, seit der Unterstützung der I.??Internationale für die polnischen und irischen Kämpfe bis hin zur Unterstützung der antikolonialen Befreiungskämpfe.
Wenn aber aufgrund anderer Erwägungen oder Überzeugungen oder strikter pazifistischer Überzeugungen immer noch Vorbehalte existieren, gibt es noch viele Möglichkeiten, die Zivilbevölkerung zu unterstützen, einschließlich humanitärer Hilfe und der Unterstützung des gewaltlosen Widerstands in besetzten Städten, Dörfern und Städten. Es gibt eine breite Palette von Aktionen, die von jeder Person, Organisation und Bewegung durchgeführt werden können.
Als Zimbabwer und Mitglied afrikanischer Netzwerke sehe ich Bilder von afrikanischen Flüchtlingsstudenten, die anders behandelt werden als andere ukrainische Flüchtlinge, Berichte über Rassismus, Diskriminierung beim Einsteigen in den Zug und so weiter. Was wäre eure Botschaft an Menschen, die keine Europäer sind, die nicht in die europäische Dynamik involviert sind, die aber wirklich Teil der globalen Friedensbewegung sein wollen?
Denys Gorbatsch: Einer unserer Kollegen hat die Ukraine als das nördlichste Land des globalen Südens bezeichnet. Ich denke, das ist richtig, vor allem wenn man sich die makroökonomische Situation und die demografischen Trends ansieht. Sicher, wir gehen als Weiße durch, was unsere Hautfarbe angeht, und wir sind in der Ukraine sicherlich Weiße, wenn wir mit lokalen rassifizierten Menschen wie Roma oder schwarzen Studenten zu tun haben. Aber in Westeuropa sinkt mein sozialer Status, sobald ich meinen Mund öffne und meinen slawischen Akzent verrate. Aufgrund des Krieges sind die Ukrainer für den Westen nun so etwas wie «weiß» geworden und werden fast menschlich behandelt.
Die rassistische Sichtweise, die Europa privilegiert, ist leider auch in der Ukraine sehr verbreitet. Die rassistischen Vorfälle an der Grenze müssen verurteilt werden. Wir erleben nicht nur Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, sondern auch aufgrund der Farbe des Passes. So werden bspw. auch Flüchtlinge aus Weißrussland diskriminiert, obwohl sie vor dem Regime in die Ukraine geflohen sind, ihnen wird aber vorgeworfen, Teil des Regimes zu sein.
Denis Pilasch: Jetzt werden ukrainische Flüchtlinge bevorzugt behandelt, einige werden aber auch ausgebeutet oder diskriminiert. Besonders verletzlich ist die Lage ausländischer Bürger:innen oder von Menschen ohne Staatsbürgerschaft oder diskriminierte Minderheiten wie die Roma.
Ich hoffe, dass wir mit unseren Forderungen, die sich auf die ukrainische Situation beziehen, auch etwas Globaleres erreichen können. Wenn wir also über Unterstützung und Hilfe für ukrainische Flüchtlinge sprechen, bezieht sich unsere Forderung auf Flüchtlinge in der ganzen Welt. Wenn wir den Erlass der ukrainischen Auslandsschulden fordern, so bezieht sich dies auf die Verschuldung der meisten Länder, insbesondere der ärmsten Länder.
Wenn wir fordern, das Vermögen der russischen und vielleicht auch der ukrainischen Oligarchen zu beschlagnahmen, um es für den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden, stellen wir auch die Frage nach den Steuerschlupflöchern, die die globale Kapitalistenklasse überall nutzt, um ihr Vermögen zu lagern. Wenn wir fordern, die Öl- und Gaslieferungen aus Russland einzustellen, sollten wir das auch auf Staaten wie Saudi-Arabien mit seinem verbrecherischen Krieg im Jemen ausdehnen. Dies sind alles fossile Brennstoffimperien, die durch einen ökosozialistischen Umbau des globalen Systems beendet werden müssen.
Quelle: www.tni.org/en/, von der Redaktion gekürzt. Das Interview erschien am 11.März 2022.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.